· 

Zum 09. November – Jüdisches Leben in Tübingen


Bild: Lisa Blum.
Bild: Lisa Blum.

Der neunte November ist ein Tag des Gedenkens in der Bundesrepublik. Zahlreiche Mahnwachen, Vorträge und Schweigeminuten erinnern an die Novemberpogrome vor nun über 80 Jahren. In diesen Tagen und Nächten Anfang November 1938 eskalierte die Gewalt gegenüber Jüd*innen im nationalsozialistischen Deutschland. Jüdische Geschäfte wurden geplündert, Gotteshäuser und Wohnungen zerstört, Menschen verletzt, umgebracht und gedemütigt. In Tübingen steckte eine Gruppe unter NSDAP-Kreisleiter Hans Rauschnabel die Synagoge in der Gartenstraße in Brand (Vgl. Tübinger Erinnerungspolitik: Das Pogrom von 1938).


Katasterplan von Tübingen im Jahr 1819 mit der Judengasse.*
Katasterplan von Tübingen im Jahr 1819 mit der Judengasse.*

Die verbliebenen 25 Tübinger*innen jüdischen Glaubens bemühten sich daraufhin verstärkt um eine Ausreise. Doch nur einem Teil gelang die Flucht: vierzehn Menschen wurden in den Jahren 1941 und 1942 in die Konzentrations- und Vernichtungslager nach Riga, Auschwitz und Theresienstadt deportiert. Zwei überlebten – und nur einer kehrte im Jahr 1958 nach Tübingen zurück.[1]

Die Geschichte der jüdischen Gemeinde ist mit der Geschichte der Stadt von Beginn an untrennbar verwoben. Vermutlich schon ein Jahrhundert nach der ersten schriftlichen Nennung Tübingens siedelten sich jüdische Menschen in der Ortschaft am Neckar an.[2] Für das Jahr 1335 ist eine Urkunde der Pfalzgrafen überliefert, die Jüd*innen wie Christ*innen der Stadt Selbstverwaltungsrechte zugesteht.[3] Seither waren Menschen beider Konfessionen in Tübingen beheimatet. Eine Steuerliste aus dem Jahr 1470/71 zeugt von fünf jüdischen Familien, die in der Stadt wohnten: „Gattman Jud, Davidt Jud, Säy sin dochterman, Symon Jud, Koppelmans frow“. Die Nachbar*innen zahlten zusammen 50 Gulden Steuern.[4] Mit Wahrscheinlichkeit lebten sie in der Judengasse nahe der Krummen Brücke, die erstmals urkundlich im Jahr 1398 erwähnt wurde. Die Häuser entstanden am Stadtrand des mittelalterlichen Tübingens – in ihren Kellern finden sich noch stets Überreste von Brunnen, die vielleicht als Mikwaot (Ritualbäder) dienten.[5]

 

Tübingen um 1820.**
Tübingen um 1820.**

Mit der Universitätsgründung durch Graf Eberhard im Bart sollte das jüdische Leben in Tübingen ein jähes Ende finden. So schrieb er im Jahr 1477:

 

„Wir wöllent auch und gebieten ernstlichen denen von Tüwingen, dass sie kein Juden ... in der stat ... laussen beliben.“[6]

 

Knapp 400 Jahre nach Eberhards Stadtverweis erstritt sich Leopold Hirsch aus dem Nachbardorf Wankheim das Tübinger Bürgerrecht. Nachdem er mehrmals vom Gemeinderat mit den Worten „nicht wünschenswert“ abgewiesen wurde, gab ihm das Königliche Oberamt schließlich doch Recht. Hirsch konnte im Jahr 1855 das Haus in der Kronenstraße 6 erwerben und betrieb von da an ein Herrenausstattungsgeschäft, das bis zur „Arisierung“ als Familienbetrieb weitergeführt wurde.[7]

 

Die Tübinger Synagoge.***
Die Tübinger Synagoge.***

Mit Leopold Hirsch begann eine kurze Blüte jüdischen Lebens in der Universitätsstadt. Die jüdische Gemeinde wuchs, und 1882 konnte die örtliche Synagoge in einem öffentlichen Festakt eingeweiht werden.[8] Als Mitschüler*innen, Anwälte, Nachbar*innen, Politiker, Studierende, Verleger, Geschäftsmänner und -frauen, Bankiers, Professoren und Freund*innen wurden die Tübinger Jüd*innen rasch zu geschätzten Mitbürger*innen. Sie bildeten einen integralen und regen Teil des politischen, wirtschaftlichen, universitären und kulturellen Stadtgeschehens.

 

Die Stimmung kippte nach der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg, antisemitische Ausschreitungen häuften sich. Mit der Machtübergabe an die NSDAP verschlimmerte sich die Lage für Menschen jüdischen Glaubens, in Tübingen wie in ganz Deutschland. Die fortschreitende Diskriminierung vertrieb die Tübinger Jüd*innen nach und nach aus ihrer Heimat. Die jüdische Gemeinde, die 1932 noch 127 Menschen gezählt hatte, musste sich in der Folge der Pogrome im März 1939 auflösen. Insgesamt wurden 101 ihrer Mitglieder in der NS-Zeit ausgegrenzt, entrechtet, verfolgt, aus der Stadt vertrieben oder ermordet. Ihre Namen finden sich – nach langem Ringen um die Erinnerung an ihr Schicksal – auf der Homepage der Stadt, in Büchern, Stolpersteinen, Gedenktafeln und im Museum; anlässlich des heutigen Gedenktages sollen sie auch hier einen Platz finden:

Universitätsstadt Tübingen (Hrsg.): Geschichte der Juden. Tübinger Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, URL: https://www.tuebingen.de/147.html#/434 (letzter Aufruf 05.11.2021).
Universitätsstadt Tübingen (Hrsg.): Geschichte der Juden. Tübinger Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, URL: https://www.tuebingen.de/147.html#/434 (letzter Aufruf 05.11.2021).

Ein Beitrag von Lisa Blum 


Stadtrundgang zu den Spuren jüdischen Lebens: https://www.tuebingen.de/19.html#/142 (externer Link).


Literatur:

Geschichtswerkstatt Tübingen (Hrsg.): Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden, Stuttgart 1995.

Hüttenmeister, Frowald Gil: Der jüdische Friedhof Wankheim, Stuttgart 1995.

Jaesrich, Michael: „... ich habe nicht den Doktortitel und bin eine ganz einfache und unverheiratete Frau, also Fräulein Lilli Zapf“: Lilli Zapf und ihr Buch über die Tübinger Juden, Tübingen 2013.

Krüger, Jürgen: Geschichte und Architektur. In: Schmidt, Rüdiger (Hrsg.): Synagogen in Baden-Württemberg, Bd. 1, Stuttgart 2007.

Schönhagen, Benigna: Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus, Tübingen 1991.

Schönhagen, Benigna / Setzler, Wilfried: Ein Rundgang zur Geschichte der Juden in Tübingen, Tübingen 1995.

Schönhagen, Benigna / Setzler, Wilfried: Jüdisches Tübingen. Schauplätze und Spuren, Haigerloch 1999.

Setzler, Wilfried / Schönhagen, Benigna / Binder, Hans-Otto: Kleine Tübinger Stadtgeschichte. Tübingen (2.Aufl.) 2013.

Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden: Eine Dokumentation, Tübingen (5. Aufl.) 2018.

 

Fußnoten:

[1] vgl. Schönhagen / Setzler, Jüdisches Tübingen, S. 5.

[2] vgl. ebd., S. 3 und Setzler / Schönhagen / Binder, Tübinger Stadtgeschichte, S. 14.

[3] Schönhagen / Setzler, Jüdisches Tübingen, S. 4.

[4] vgl. Schönhagen / Setzler, Jüdisches Tübingen, S. 8.

[5] vgl. ebd.

[6] zit.n. Schönhagen / Setzler, Jüdisches Tübingen, S. 9.

[7] Schönhagen / Setzler, Jüdisches Tübingen, S. 12.

[8] Krüger, Synagogen, S. 482.

 

Bilder (externe Links, letzter Zugriff jeweils am 08.11.2021):

 

*Bild: Conrad Kohler (Lithographie), Public domain, via Wikimedia Commons.

Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stadtplan_T%C3%BCbingen_1819.png

File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/0e/Stadtplan_T%C3%BCbingen_1819.png

 

**Bild: O. F. Strodtbeck, Public domain, via Wikimedia Commons.

Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:OF_Strodtbeck_-_T%C3%BCbingen_von_Osten_(1820).jpg

File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e8/OF_Strodtbeck_-_T%C3%BCbingen_von_Osten_%281820%29.jpg 

 

***Bild: Wilhelm Paret, Public domain, via Wikimedia Commons.

Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Synagoge_T%C3%BCbingen_1885.jpg

File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/04/Synagoge_T%C3%BCbingen_1885.jpg


Infospalte


Aktuelle Kategorie:

lokal hingeschaut

 

… auch interessant:

Schwieriges Erbe - Ausstellung im Stuttgarter Lindenmuseum

 

 

Verwandte Themen:

Geschichtslernen digital

 

Folge uns auf  Twitter:



Kommentar schreiben

Kommentare: 0

Institut für Geschichtsdidaktik und Public History

Wir bieten Ihnen interessante Informationen und Wissenswertes über Geschichte in unserem Alltag und für die Schule: von Ausstellungsrezensionen über Unterrichtsmaterial bis hin zu Reise- und Fortbildungstipps. Alles was Geschichtsinteressierte begeistert – Klicken Sie sich schlau!