„Und welche Aufgaben hat so ein Stadtarchiv nun eigentlich?“ Genau dieser Frage soll mit dem nachfolgenden Interview auf den Grund gegangen werden. Ruben Haas hat sich mit Günter Riederer vom Stadtarchiv Stuttgart über seine Tätigkeit in der Vermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit im Stadtarchiv Stuttgart unterhalten.
Guten Morgen Herr Riederer. Lassen Sie uns das Interview mit etwas Trivialem beginnen: Was schalten Sie morgens zuerst ein, wenn Sie am Arbeitsplatz angekommen sind?
Das Erste, was ich morgens einschalte, ist der Rechner, ohne den geht auch in einem Archiv gar nichts.
Welche Funktion beziehungsweise welche Aufgaben hat so ein Archiv eigentlich?
Ein Stadtarchiv bewahrt und sichert zunächst einmal die Unterlagen der Stadtverwaltung. Das ist eine Funktion, die mir aus meiner wissenschaftlichen Tätigkeit, als ich gewissermaßen noch auf der
anderen Seite des Schalters im Lesesaal stand, nicht so klar war. Grundsätzlich ist es so, dass ein kommunales Archiv auf zwei Säulen aufbaut – im „Archivdeutsch“ nennen wir das den „amtlichen“
und den „nicht-amtlichen“ Bereich. Der amtliche Bereich ist das Kerngeschäft eines jeden Stadtarchivs: Auf gesetzlicher Grundlage sammeln wir alles, was in der Verwaltung der Stadt anfällt. Der
nicht-amtliche Bereich zielt auf historisch wertvolles Material aus privater Hand. Die Spannweite ist dabei enorm und reicht von Familienpapieren bis hin zu Vereinsnachlässen. Nur wenn beide
Perspektiven – also die „amtliche“ und die „nicht-amtliche“ möglich sind – lässt sich tatsächlich Stadtgeschichte schreiben. Ein Archiv leistet in der heutigen – wie es oft so schön heißt –
Wissens- und Informationsgesellschaft aber noch viel mehr. Wir selbst bezeichnen uns gerne als Kompetenzzentrum für Stadtgeschichte, das heißt wir wollen Anlaufstelle für alles sein, was mit der
Geschichte Stuttgarts zu tun hat. Jede Bürgerin und jeder Bürger kann zu uns kommen und im Lesesaal Unterlagen einsehen. Mit der Erschließung und Bereitstellung von Unterlagen versuchen wir
Forschung möglich zu machen. Gleichzeitig leisten wir aber auch selbst mit Publikationen, Vorträgen oder einem Instrument wie unserem digitalen Stadtlexikon eigenständige Beiträge zur
Stadtgeschichte. Und nicht zuletzt sind wir außerschulischer Lern- und Bildungsort und wollen möglichst viele Schulklassen mit dem Archiv in Kontakt bringen.
Das klingt vor allem auch nach viel Verantwortung, die ein Archiv hat. Wie sind Sie denn zum Stadtarchiv gekommen?
Von meiner Ausbildung her bin ich Historiker: Ich habe Geschichte im Hauptfach studiert und 1994 mit dem Magister abgeschlossen. Daran schloss sich dann die Promotion an. Allerdings habe ich bei
allen meinen Qualifikationsarbeiten einen ausgeprägten Hang zum Archiv entwickelt. Schon bei den Recherchen für meine Magisterarbeit bin ich mit einem Stadtarchiv in Berührung gekommen. Dabei
ging es um die politische Festkultur in Regensburg im 19. Jahrhundert und frühen 20. Jahrhundert. Zu Kaiser- und Königsgeburtstagen oder zu politischen Besuchen und Empfängen fand sich im
Stadtarchiv reichhaltiges Aktenmaterial, da in die Organisation solcher Veranstaltungen immer auch städtische Behörden einbezogen wurden. Im Rahmen meiner weiteren wissenschaftlichen Tätigkeit,
allen voran den Recherchen zu meiner Dissertation, die sich mit Fragen der nationalen und regionalen Identität im deutsch-französischen Grenzraum beschäftigte, habe ich viele weitere Archive
aufgesucht. Darunter waren beispielsweise auch einige kleinere Stadtarchive im Elsass, in denen sich oft überraschende Funde machen ließen. Wichtig zu wissen ist, dass kommunale Archive eine
lokale Zuständigkeit besitzen. Daher schärfen Sie auch den Blick für lokale Besonderheiten. So etwas finden Sie nicht in einem Bundesarchiv.
… Und da die Archivlandschaft offenbar so vielfältig ist, gibt es verschiedene Möglichkeiten, seinen Horizont zu erweitern. Es scheint mir, als hätten die Archive einen großen Wissensapparat zur Verfügung. Wie kann man sich da so viele Daten merken, ohne den Überblick zu verlieren?
Man muss und kann sich nicht alles merken. Inzwischen gibt es diverse elektronische Hilfsmittel für die Recherche, aber auch digitalisierte Bestände, die von überall aus abrufbar sind. Wir haben beispielsweise die Protokolle des Gemeinderats nach 1945 digitalisiert und stellen diese der interessierten Öffentlichkeit zur Verfügung. Fast unser gesamter Bestand ist über die Datenbank findbuch.net erschlossen, die über unsere Homepage abrufbar ist. Damit bieten wir die Möglichkeit, bereits von zu Hause aus zu recherchieren, und Unterlagen zu bestellen. Grundsätzlich empfehle ich aber unseren Benutzerinnen und Benutzern immer, das Gespräch mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu suchen, da ist in den einzelnen Abteilungen des Hauses ein fundiertes Fachwissen vorhanden, das Suchmaschinen und Datenbanken nicht bzw. nur teilweise bieten. Dennoch muss man sagen, dass die Digitalisierung die Recherche enorm erleichtert.
Profitieren die Archive denn von einem derartigen technischen Fortschritt, zum Beispiel durch höhere Besucherzahlen? Was treibt die Besucher*innen an, in ein Archiv zu gehen, um zu forschen? Und was tut das Archiv, um diese Besucherzahlen zu halten bzw. zu vergrößern?
Die Besucherzahlen sind durch die Digitalisierung nichtgesunken. Das hängt meiner Meinung nach auch damit zusammen, dass die Benutzerinnen und Benutzer bei uns im Lesesaal gerne „die originalen
Dokumente“ in den eigenen Händen halten möchten. Authentizität und die Möglichkeit originale Dokumente zu sehen, sind auch die Grundpfeiler unserer Bildungsarbeit: Wir haben uns zum Ziel gemacht,
Schülerinnen und Schülern in der kritischen Interpretation von Quellen zu trainieren. Wir sehen das Archiv auch als außerschulischen Lernort, der es möglich macht, historische Quellen authentisch
zu erfahren. Wenn ich Schülerinnen und Schülern beim Rundgang durch das Haus ein Cannstatter Kaufbuch aus dem Jahr 1555 zeige, ist tatsächlich echte Begeisterung dafür zu spüren, ein fünfhundert
Jahre altes Buch zu sehen. Darüber hinaus möchten wir Schülerinnen und Schüler aber auch in Fragen der Medienkompetenz bilden. Aktuell bieten wir hierzu ein Modul an, dessen Grundlage ein Ende
November 1941 gedrehter Propagandafilm über die Deportation der jüdischen Bevölkerung aus Württemberg und Stuttgart ist. Im Mittelpunkt dieses 90minütigen Moduls steht die Frage, was Wahrheit und
was Lüge ist. Was wurde mit diesen scheinbar harmlosen Filmbildern beabsichtigt und wie wirken sie heute noch?1
Welche weiteren Schwerpunkte haben Sie sich als Verantwortlicher für die Vermittlungs- und Öffentlichkeitsarbeit des Stadtarchivs gesetzt?
Bei den Veranstaltungen ist unser Ziel, nicht eine x-beliebige Abspielstätte für kulturelle Events zu werden. Wie bereits gesagt, wir sehen uns selbst als Kompetenzzentrum für Stadtgeschichte, sodass sich der Schwerpunkt unserer Veranstaltungen im Bereich der Stadtgeschichte und der Geschichte allgemein bewegt. In diesem Jahr waren das beispielsweise Vorträge zur Geschichte des VfB Stuttgart im Nationalsozialismus oder über Albert Einsteins Cannstatter Wurzeln. In Kooperation mit Partnern wie der Bibliothek für Zeitgeschichte in der Württembergischen Landesbibliothek machen wir Vorträge, die über die unmittelbare Stadtgeschichte hinausreichen: Letztes Jahr hat Magnus Brechtken seine Speer-Biographie bei uns vorgestellt, Eckhart Conze hat diesen Februar sein Versailles-Buch im Vortrag präsentiert und am 23. Oktober dieses Jahres kommt Frank Bösch und spricht über sein Buch „Zeitenwende 1979“. Mit dem Haus der Geschichte Baden-Württemberg veranstalten wir alle zwei Jahre das Stuttgarter Symposion, eine wissenschaftliche Tagung im Rathaus, die sich aktuellen Themen der Geschichts-wissenschaften widmet. Die diesjährige Ausgabe am 29. November 2019 wird sich unter dem Titel „Die vergessene Ausbeutung“ der regionalen Dimension des Kolonialismus widmen.
Wie sieht es „Hinter den Kulissen“ eines Stadtarchivs aus? Wer arbeitet dort?
Insgesamt arbeiten mit mir 19 Kolleginnen und Kollegen in Bereichen, in denen oft spezielle Fachkenntnisse erforderlich sind. Mein Kollege in der Restaurierwerkstatt beispielsweise ist ausgebildeter Buchrestaurator, die Kollegin, die unsere Bibliothek betreut ist Diplom-Bibliothekarin. Es gibt aber natürlich auch eine Reihe von ausgebildeten Archivarinnen und Archivaren im Haus.
Gibt es eigentlich auch Unterlagen, zu denen die Öffentlichkeit keinen Zugang hat, etwa weil dies „geheime“ Unterlagen sind?
Ehrlich gesagt gibt es im Archiv keine Geheimnisse, diese Vorstellung gehört zu den weit verbreiteten Klischees über Archive. Grundsätzlich sind wir eine öffentliche Einrichtung, jede Bürgerin
und jeder Bürger hat das Recht, zu uns zu kommen und Informationen zu recherchieren und einzusehen. Insofern sind Archive zutiefst demokratische Einrichtungen, sie ermöglichen tatsächlich
Transparenz des Verwaltungshandelns und üben damit eine wichtige Funktion innerhalb einer demokratischen Gesellschaft aus. Wie Sie aber richtig vermutet haben, unterliegen manche Unterlagen
jedoch einer Sperrfrist. Aber selbst diese Sperrfristen können unter bestimmten Bedingungen aufgehoben werden, beispielsweise wenn es ein berechtigtes wissenschaftliches Interesse gibt.
Ich muss zugeben, ich selbst bin mittlerweile sehr daran interessiert, einmal im Archiv vorbeizuschauen. Was empfehlen Sie Besucher*innen, die zum ersten Mal ein Archiv besuchen?
Kommen Sie einfach vorbei, wir haben regelmäßige Öffnungszeiten des Lesesaals. Sie können Ihr Anliegen aber natürlich auch per Mail formulieren und uns bereits vorab zukommen lassen. Das Schöne aus Sicht der Benutzerin oder des Benutzers ist: Wenn Sie uns kontaktieren, erhalten Sie immer eine Antwort.
Ausgezeichnet. Dann kann es ja bald losgehen! Abschließend hätte ich gerne noch gewusst, was Sie sich für die Zukunft des Archivs wünschen.
Aus Sicht des Vermittlers und Öffentlichkeitsarbeiters wünsche ich mir, dass es uns weiterhin gelingt, Begeisterung für das Archiv und dessen Möglichkeiten zu wecken. Meine Erfahrung ist, dass viele nach dem Archivbesuch oder einer Führung durch das Haus sagen: „Das war ja jetzt wirklich interessant, das hätten wir uns gar nicht so vorgestellt.“ Leider sind die Klischees über das Archiv noch weit verbreitet.
Die da wären?
Die Vorstellung von der Archivarin oder dem Archivar im blauen Kittel, der oder die im staubigen Keller sitzen, in Unterlagen „kruschteln“ und Akten von der einen Seite des Tisches auf die andere schieben, ist leider oft noch weit verbreitet. Aus eigener Kenntnis kann ich wirklich sagen, dass das mit der Realität in Archiven überhaupt nichts zu tun hat.
Herzlichen Dank für Ihre Zeit, das angenehme Gespräch und die vielen aufschlussreichen Antworten. Ich wünsche Ihnen weiterhin alles Gute für Sie und das Archiv!
Danke, ebenfalls.
Ein Interview von Ruben Haas
Die Quellen zu diesem Text sind wie angegeben zu beachten.
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