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Ein weißer Faden

Lesezeit ca. 3 Minuten

Bild: Timo Mäule.
Bild: Timo Mäule.

„Kleider machen Leute“, dieser Buchtitel von Gottfried Keller bildet zugleich die Existenzgrundlage der Modebranche. Doch woraus werden Kleider gemacht? Im 21. Jahrhundert bestehen etwa 60 Prozent der global verarbeiteten Stoffe aus Polyester. Die restlichen 40 Prozent werden aus Baumwollfasern hergestellt.[1] Die ersten Textilien aus synthetischen Fasern wurden allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewoben.

 

Im 19. Jahrhundert war Baumwolle die wichtigste Ware Europas, in Indien und China traf dies sogar seit dem Jahr 1000 zu. Als erstes Massenkonsumprodukt der Welt stand sie am Anfang der industriellen Revolution, denn angetrieben von Kohle produzierten die ersten eisernen Maschinen vor allem Stoffe aus Baumwolle.[2] Andere Pflanzenfasern wie Flachs beziehungsweise Leinen, aber auch tierische Rohstoffe wie Wolle, Pelz und Seide wurden von ihr verdrängt oder zumindest marginalisiert. Die Baumwolle war leichter zu pflegen, besser zu färben, sie war robuster und vor allem billiger. Irritieren müssen indes die niedrigen Preise für eine Ware, welche in Europa aus einer Pflanze produziert wurde, die nur in tropischen und subtropischen Gebieten wuchs. Um dieses Paradoxon zu ergründen, folgen wir einem weißen Faden, dessen Verlauf die vielfältigen Auswirkungen von Anbau, Handel und Verarbeitung der Baumwolle miteinander verknüpft.

 

Am Anfang der europäischen Textilindustrie stand die Verzweiflung. Die vom Merkantilismus überzeugten Herrschenden mussten beobachten, wie ihre Untertanen indische Baumwollstoffe, Kattun genannt, gegen Gold und Silber tauschten. Mit dem Schwund des Edelmetalls sank die verfügbare Geldmenge. Der Grund dafür war, dass in Europa noch Kurantwährungen beziehungsweise Silber- und/oder Goldstandards vorherrschten. Jede neue Münze erforderte folglich eine reale Menge an Silber oder Gold.[3] Zudem konkurrierten die importierten Kattunstoffe mit dem im Aufbau befindlichen heimischen Baumwollgewerbe sowie der etablierten Woll-, Seide- und Leinenproduktion. Der zarte Stoff schien die damalige Wirtschaftsordnung ins Wanken zu bringen. Zwischen 1689 und 1744 erhoben Frankreich, Großbritannien, Spanien und Russland hohe Einfuhrzölle auf indische Baumwolltücher.[4] Rohbaumwolle wurde weiterhin in europäische Staaten eingeführt und hinter den Zollschranken bildeten sich baumwollverarbeitende Regionen heraus. 

Bild: Library of Congress / Public domain.**
Bild: Library of Congress / Public domain.**

Baumwollreiche

Im nordenglischen Lancashire wurde bereits um 1600 Baumwolle gesponnen und verwoben. Ihren späteren Aufstieg zu einem Zentrum der globalen Baumwollindustrie verdankte die Grafschaft zwei großen historischen Umwälzungen: der europäischen Expansion und der Industrialisierung. Traditionelle Anbaugebiete der Baumwolle in Indien gerieten unter die Kontrolle des British Empire. Die Stoffe der indischen Konkurrenz, welche bessere Qualität bei niedrigeren Kosten erreichten, wurden so zuerst auf außereuropäische Märkte umgelenkt und später ersetzt.[5] Als Teil des Columbian Exchange kam die Baumwolle aber auch nach Nord- und Südamerika. Die dortige Plantagenwirtschaft lieferte den Rohstoff für Europas Textilindustrie bis zum Rückgang der Sklaverei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Afrikanische Sklaven in den Amerikas und später in Kolonien bauten die Baumwolle an, die europäische Spinner und Weber verarbeiteten.

 

Zur Industrie wurde die Baumwollverarbeitung durch mechanische Spindeln und Webstühle. Ein Beispiel dafür findet sich im badischen Wiesental. Kaufleute aus Basel beschafften das Kapital und die Rohbaumwolle für die sogenannte „Kolonisierung des Wiesentals“. Ab 1810 wurden hier die bereits existierenden Fabriken mechanisiert und mit der Wasserkraft des Flusses betrieben. 50 Jahre später drehten sich 160.000 Spindeln und ratterten 8.000 Webstühle im Wiesental.[6] Dies entsprach 0,3 Prozent der etwa 59.000.000 Spindeln und 1,2 Prozent der 650.000 Webstühle weltweit. Die fertigen Stoffe gingen zurück nach Basel.

 

Die Wege des weißen Goldes

Das globale Netzwerk aus Baumwollanbau, -verarbeitung und Absatzmärkten war aber keineswegs störungsfrei. So eröffnete die napoleonische Kontinentalsperre dem Wiesental und anderen kontinentaleuropäischen Regionen die Chance, isoliert von der dominanten Baumwollindustrie Großbritanniens auf dem Markt Fuß zu fassen. Umgekehrt gefährdeten Konflikte zwischen den Kolonial- und Seemächten wiederholt die Versorgung der europäischen Fabriken. Eine tiefgreifende Zäsur stellte dabei der Amerikanische Bürgerkrieg dar. Seine Auswirkungen reichten von Indien, Ägypten und Brasilien bis nach Sachsen. Mit der Seeblockade der Nord- gegen die Südstaaten von 1861 fielen 70 bis 90 Prozent der bis dahin erfolgten Gesamtimporte an Rohbaumwolle nach Großbritannien, Frankreich und Russland aus.  Die Menge der in den Deutschen Zollverein eingeführten Baumwolle sank um die Hälfte. Daraus resultierten steigende Rohstoffpreise und Überkapazitäten in den Fabriken. In Sachsen hatte dies die Entlassung von einem Drittel der 300.000 Textilarbeiter zur Folge. Die verbliebenen Arbeiter litten bis 1863 unter der Kurzarbeit, welche ihre geringen Löhne weiter senkte. Gleichzeitig profitierten Indien, Ägypten und Brasilien vom Ausfall der USA in Form der Steigerung des Baumwollanbaus und des -exports. Bis 1866 produzierten und verkauften sie zusammen Baumwolle für über eine Milliarde britischer Pfund.[7]

 

Seit den 1920er Jahre verlagerte sich die Textilindustrie nach Asien, vor allem nach Japan, China und Indien.[8] Geschlossene und leerstehende Textilfabriken wurden in Europa und Nordamerika als die ungerechte Abwanderung in Billiglohnländer gewertet. Der vorangegangene Aufstieg dieses Wirtschaftszweigs wurde indes nicht problematisiert. De facto kehrte das Baumwollgewerbe in seine Ursprungsgebiete zurück.

 

Am Ende des Fadens

Der Anbau von Baumwolle hatte letztlich starken Einfluss auf die Umwelt. Im Zuge ihrer Kultivierung und Verbreitung durch den Menschen hatte die Baumwollpflanze einen genetischen Flaschenhals passiert. Auf den Plantagen wurde sie bei einer geringen genetischen Vielfalt in Monokultur angebaut. Schädlinge wie Baumwollraupen und Baumwollkapselkäfer trafen folglich auf wenig Widerstand. Ende des 19. Jahrhunderts ermöglichten erste Insektengifte auf Arsenbasis eine Reaktion auf solche Insektenplagen. Seitdem vollziehen sich auf Baumwollfeldern und anderen Äckern Zyklen aus Resistenzen gegen und Erfindungen neuer Insektizide, Fungizide und Herbizide.[9] Langfristig laugt der Anbau von Baumwolle die Felder aber auch ohne chemische Rückstände aus, was vor allem vor der Einführung künstlicher Düngung ein Problem darstellte. Zudem erfordert der Anbau von Baumwolle große Mengen an Wasser. So werden circa 2.700 Liter benötigt, um das Rohmaterial für ein T-Shirt anzubauen. Somit hatte der Baumwollanbau bereits geographische Konsequenzen: Im Stalinismus hatte die Entnahme von Wasser aus dem Aralsee für die Bewässerung der kasachischen und usbekischen Baumwollfelder begonnen. Heute ist seine Verlandung fast abgeschlossen.[10]

 

Die großen räumlichen Distanzen verdeutlichen, dass Baumwolle nach wie vor ein Bindeglied ist. Als lange Kausal- und Warenkette verknüpft sie die Leben von Millionen Menschen auf unterschiedlichen Kontinenten.

 

 

Ein Beitrag von Sven Seelinger

Quellen zu diesem Text


Fußnoten:

[1] Vgl. Érik Orsenna: Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisierte Welt, München 2009, S. 15.

[2] Vgl. Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2016, S. 91.

[3] Vgl. Bernd-Stefan Grewe: Gold. Eine Weltgeschichte, München 2019, S. 48–50.

[4] Vgl. Trentmann: Herrschaft der Dinge, S. 92f.

[5] Vgl. Beckert: King Cotton, S. 60–62.

[6] Vgl. Ebd., S. 141.

[7] Vgl. Ebd., S. 238f.

[8] Vgl. Ebd., S. 261.

[9] Vgl. Charles C. Mann: Kolumbus Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, Hamburg4 2014, S. 378–381.

[10] Vgl. Beckert: King Cotton, S. 388f.

 

Literatur:

Grewe, Bernd-Stefan: Gold. Eine Weltgeschichte, München 2019.

Mann, Charles C.: Kolumbus Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, Hamburg 4 2014.

Orsenna, Érik: Weiße Plantagen. Eine Reise durch unsere globalisierte Welt, München 2009.

Trentmann, Frank: Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute, München 2016.

Beckert, Sven: King Cotton. Eine Geschichte des globalen Kapitalismus, München 2014.

 

 

Bilder (letzter Zugriff jeweils am 31.03.2020):

 

Oberes Bild:

Timo Mäule / All rights reserved.

 

**Unteres Bild:

Library of Congress / Public domain

Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Cotton_picking.jpg (externer Link)

File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fa/Cotton_picking.jpg (externer Link)

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