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Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit kam in der jungen Bundesrepublik nach ersten, meist von den Alliierten initiierten Aktionen schnell zum Stillstand. Diese Bestandsaufnahme gilt in weiten Teilen auch für Tübingen, wo seit 1954 mit Hans Gmelin ein ehemals hochrangiger NSDAP-Funktionär das Amt des Oberbürgermeisters bekleidete. Dennoch gab es zu jeder Zeit Einzelpersonen, die sich mit dieser Situation nicht abfinden wollten und sich schon sehr viel früher dem Thema annäherten. Für Tübingen ist in diesem Zusammenhang vor allem Lilli Zapf hervorzuheben.
Hier folgt die Fortsetzung zu letzter Woche:
Ziele
Das Besondere an Lilli Zapfs Arbeit ist nicht nur, dass sie sich so früh mit dem Thema Vergangenheitsbewältigung beschäftigte und die Erinnerung an die Opfer der Nazi-Verbrechen bewahren wollte. Hervorzuheben ist auch ihr Anliegen, eine neue Basis des Austauschs zwischen den Menschen, die ihre Heimat verloren hatten, und den verbliebenen Tübinger*innen zu schaffen. So sandte Lilli Zapf beispielsweise regelmäßig Heimatkalender und das Tübinger Lokalmagazin „Die Tübinger Blätter“ an die Emigrant*innen. Das Ziel erläuterte sie selbst, als sie einem Vertriebenen schieb:
„Erstens tue ich das [den Emigranten Tübinger Zeitungen schicken, Anm. d. Red.] sehr gern, um Ihnen eine kleine Freude zu bereiten und vielleicht doch ´Heimatgefühle` aufkommen zu lassen nach all den Bösartigkeiten der Vergangenheit […]."[1]
Lilli Zapf wollte den Emigrant*innen verdeutlichen, dass die Verbindung zwischen ihnen und der ehemaligen Heimat nicht irreversibel beendet wurde. In den Briefen an die Tübinger Jüdinnen und Juden, die in alle Teile der Welt vertrieben wurden, stellt sie positive, persönliche Erinnerungen an die verlorene Heimatstadt in den Vordergrund.
„Ich kann sehr gut verstehen, daß sie zunächst nichts mehr von diesem Land und seinen Leuten wissen wollten. Aber im Laufe der Zeit kam doch auch manches Gute, das in den entsetzlichen Jahren des Terrors getan wurde, zum Vorschein. Und daran sollten Sie sich wieder aufrichten und alle Prinzipien fahren lassen. Also kommen Sie bald einmal! Mit mir freuen Sie sich bestimmt noch viele Menschen im württemberger [sic!] Ländle."[2] „Nun wünsche ich Ihnen allen eine gute Zeit, vor allem aber Gesundheit und sende viele herzliche Grüße aus dem alten Schwabenland mit seinem schönen Tübingen."[3]
Lilli Zapf beschwor geradezu die Verbindung zur alten „Heimat“. Das ist durchaus bemerkenswert, bedenkt man, dass den Angeschriebenen keine 20 Jahre zuvor jede Zugehörigkeit zu dieser „Heimat“ abgesprochen wurde. Bezeichnend ist zudem, dass Lilli Zapf ausschließlich an die Verbundenheit zum „Schwabenland“ oder zur „Neckarstadt Tübingen“ appellierte. Bezüge zu „Deutschland“ wurden weitestgehend vermieden. Vermutlich war dieser Begriff für viele der jüdischen Emigrant*innen nach all den Verbrechen, die ihnen im Namen des „Deutschtums“ angetan wurden, schlichtweg zu negativ besetzt. Dass Lilli Zapf mit ihrem Vorgehen teilweise Erfolge verbuchte, belegt das folgende Antwortschreiben eines Emigranten:
„ Isch’s recht so?? I hoff wenigschtens lb. Fräulein Zapf: A bissle hoimischer Dialog dazwischa, tuat oim hie und da au amol ganz wohl!! Hoffentlich ist die Entzifferung für Sie nicht zu schwer, für mich jedenfalls noch ein ´Stück Heimat`."[4]
Aber Lilli Zapf ging noch weiter. Sie wollte die Emigrant*innen auch von der Wandlung oder zumindest von der Wandelbarkeit der verlorenen Heimat überzeugen. So berichtete sie in Briefen an die ehemaligen Tübinger*innen häufig über den deutschen Widerstand gegen das faschistische Regime. Außerdem informierte sie über geläuterte „Nazis“ aus Tübingen und die vermeintlich „projüdische Stimmung“ in der Stadt:
„So sandte ich z.B. kürzlich eine Nummer der ‚Allgemeinen‘ an einen Bekannten nach Nördlingen, einen Augenarzt, der in der Nazizeit überzeugter Nationalsozialist war, […] Heute erhielt ich von ihm eine gute Nachricht. Er schreibt wörtlich: ‚Wir danken herzlich für Brief und Zeitung, die auch mir gefallen haben. Ich sehe die Juden jetzt etwas anders an als bisher.‘ Natürlich sende ich ihm demnächst wieder ein paar ‚Allgemeine‘ und hoffe auf eine völlige Wandlung seiner Gesinnung."[5]
Ob sie mit diesen Berichten die realen Verhältnisse, über den Einzelfall hinaus, wiedergab, bleibt durchaus fraglich.
Lilli Zapfs Versöhnungsapelle waren stets an beide Seiten gerichtet. Auch in Tübingen selbst wollte Lilli Zapf Interesse für eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu den ehemaligen jüdischen Mitbürger*innen wecken. Dies ging natürlich nur indirekt, über den Umweg ihres Buches. So veröffentlichte Lilli Zapf dann auch einerseits wissenschaftliche Daten, stellte aber gleichzeitig die menschlichen Schicksale der vertriebenen Mitbürger*innen in drastischer und anschaulicher Weise dar. Es kann eindeutig dargelegt werden, dass Lilli Zapfs Buch eine ganze Reihe von Elementen innewohnen, die das Bild der Emigrant*innen in Tübingen explizit zum Positiven beeinflussen sollen. So verwendete Lilli Zapf beispielsweise große Mühen darauf, Angaben über etwaige militärische Auszeichnungen zu erhalten, die jüdische Tübinger*innen in den vergangenen Kriegen erworben hatten. Der folgende Ausschnitt macht deutlich, weshalb Lilli Zapf diese Angaben als unverzichtbar einstufte:
„Daß die jüdischen Männer sehr tapfer gekämpft haben im 1. Weltkrieg ist jedem Menschen guten Willens reichlich bekannt. Es sind nur die unverbesserlichen Antisemiten, die immer wieder sich erdreisten, das Gegenteil zu behaupten. Gerade deshalb möchte ich in meiner Arbeit auf die vielen Auszeichnungen und Tapferkeitsmedaillen hinweisen, die Juden im 1.Weltkrieg erhalten haben."[6]
Lilli Zapf fügte dem Buch allerdings nicht nur Thematiken und Einzelheiten hinzu, die die Emigrant*innen in ein positives Licht setzten. Sie verzichtete auch bewusst auf die Darstellung von Sachverhalten, von denen sie befürchten musste, dass sie das Gegenteil bewirkt hätten. So wiesen beispielsweise einige der Emigranten in Briefen an Lilli Zapf auf ungerechte Behandlung im Zuge der Wiedergutmachung hin. Diese Aussagen finden sich, bis auf eine Ausnahme, nicht in Lilli Zapfs Buch wieder, obwohl sie sonst nahezu jede Information verwertete. Die Vermutung liegt nahe, dass Lilli Zapf das Bild „ihrer“ Emigrant*innen in Tübingen schützen wollte, denn immer noch hatten stereotype Vorurteile gegenüber Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland große Wirkmacht. Eines dieser Vorurteile betrifft das Bild des raffgierigen und ewig unzufriedenen Juden. Gerade im Zusammenhang mit den Wiedergutmachungszahlungen, die Deutschland an Israel leistete, wurden solche Antisemitismen in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung wieder artikuliert. Weiß man um Lilli Zapfs Zielsetzung, erscheint es zumindest folgerichtig, dass sie bewusst auf die Erwähnung aller Aspekte verzichtete, die solche Sichtweisen bei den Tübingern verstärkt hätten. Auch auf die namentliche Nennung von Täter*innen verzichtete Lilli Zapf vollständig, obwohl die Korrespondenz beweist, dass Lilli Zapf durchaus im Besitz solcher Informationen war.
Festzuhalten ist, dass es Lilli Zapf in einigen Fällen wirklich gelang, neue Brücken zu schlagen. So nahmen 1981 viele der überlebenden Flüchtlinge die Einladung der Stadt Tübingen an und besuchten die alte Heimat, was auch auf das aktive Handeln Lilli Zapfs zurückzuführen ist. Die Korrespondenz Zapfs zeigt in vielen Fällen auch einen langsamen Wandel in der Einstellung der Vertriebenen: Deutlich zu sehen im folgenden Ausschnitt aus einem Brief von Frau Recha Reutlinger:
„Ihre lieben Zeilen haben mich ein wenig mit der alten Heimat versöhnt, gegen die ich so verbittert war und die ich nicht mehr besuchen wollte. Aber ich weiß, daß viele ihres Glaubens ihr Leben hingaben, um das Naziregime zu stürzen, leider zu spät. So komme ich doch nicht über die Verluste in meiner Familie hinweg. Sie haben recht, auch ich hoffe auf ein Wiedersehen in einer besseren Welt. Ich freue mich [sic!] einen so feinen Menschen wie Sie kennen gelernt zu haben."[7]
Abschließend bleibt zu sagen, dass Lilli Zapf mit ihrer Veröffentlichung unter schwierigen Bedingungen einen ersten großen Schritt zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit Tübingens unternommen hatte. Aber auch über die Dokumentation hinaus engagierte sich diese beeindruckende Frau auf dem Feld der Erinnerungskultur. So intervenierte sie mehrmals bei städtischen Stellen und forderte die Errichtung öffentlicher Mahnmale; zum einen auf dem jüdischen Friedhof in Wankheim und zum anderen an der Stelle der niedergebrannten Synagoge in Tübingen. Dass auch Lilli Zapf mit ihren Forderungen die gesellschaftliche Stimmung nur teilweise durchdringen konnte, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sich die städtischen Behörden erst 1978 dazu durchringen konnten, eine Inschrift zur Erinnerung an die „Reichspogromnacht“ an einem bereits bestehenden(!) Brunnentrog anzubringen. Der Umstand, dass dieser äußerst einfache Steintrog einige hundert Meter von der ehemaligen Synagoge entfernt steht, und der angebrachte Text selbst machen klar, wieviel Arbeit noch vor der deutschen Gesellschaft lag:
„HIER STAND DIE SYNAGOGE DER TÜBINGER JÜDISCHEN GEMEINDE. SIE WURDE IN DER NACHT VOM 9./10. NOVEMBER 1938, WIE VIELE ANDERE IN DEUTSCHLAND, NIEDERGEBRANNT.“
Diese nichtssagende und relativierende Art des Gedenkens zeigt, wie außergewöhnlich hoch Lilli Zapfs frühes und hartnäckiges Engagement zu bewerten ist. Völlig zu Recht sind heute in Tübingen eine Straße und ein Preis für soziales Engagement nach ihr benannt.
Ein Beitrag von Michael Jaesrich
Fußnoten:
[1] UAT 200/6 W: Lilli Zapf an Dr. Georg Weil vom 27.5.1972.
[2] UAT 200/2 E: Lilli Zapf an Susie Elsässer vom 24.9.1966.
[3] UAT 200/2 F: LZ an Hilde Fechenbach vom 18.2.1972.
[4] StAT E10/N65/9 L: Walter Löwenstein an Lilli Zapf vom 25.5.1970.
[5] UAT 200/4 N: Lilli Zapf an Prof. Neufeld vom 29.12.1966.
[6] UAT 200/1 A: Lilli Zapf an Ruth Alexander-Livi vom10.5.1966.
[7] UAT 200/5 R: Recha Reutlinger an Lilli Zapf vom 4.2.1965.
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