In Tailfingen – einem sicherlich eher unbekannten kleinen Dorf bei Herrenberg – vermutet wohl niemand den Schauplatz eines der menschenverachtenden Arbeits- und Vernichtungslagers der Nationalsozialisten. Doch genau hier, auf der beschaulichen Hochebene zwischen Neckartal und Ammertal gelegen, befand sich in den letzten Monaten der NS-Diktatur das sogenannte KZ-Außenlager Hailfingen-Tailfingen. Das Konzentrationslager wurde im November 1944 eigens für den dortigen Nachtjägerflugplatz Hailfingen errichtet. Nach Kriegsende blieb die Existenz des ehemaligen Flugplatzes und Arbeitslagers weitestgehend unbeachtet. Fehlende Dokumente und das Schweigen der Dorfbewohner ließen die 600 jüdischen Gefangenen und deren unsagbares Leid in Vergessenheit geraten. Erst 1978 begann die Nachforschungen und die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte des Konzentrationslagers. Im Jahre 2010 wurde schließlich eine Gedenkstätte an der Stelle des ehemaligen KZs eingeweiht und der Verein „KZ Gedenkstätte Hailfingen Tailfingen e. V.“ gegründet.
Mit dem Ziel des Gedenkens und der Erinnerung an das Leiden der Opfer im KZ Hailfingen-Tailfingen betreibt der Verein auch eine Internetseite. Diese verliert sich nicht in aufwändig grafisch inszenierten Spielereien, sondern besticht durch eine intuitive Menüführung und vor allem die aufbereiteten und verfügbaren Inhalte.
Die Zielgruppe des Onlineangebots sind in erster Linie Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer und alle Interessierten, die sich nach einem Besuch des Dokumentationsraums im Tailfinger Rathaus tiefergehend mit dem Flugplatz Hailfingen und dem dazugehörigen Gelände des ehemaligen KZ Hailfingen-Tailfingen auseinandersetzen wollen. Die verfügbaren Inhalte der Internetseite können allerdings auch ohne eine Besichtigung vor Ort genutzt werden. Hierfür bietet der digitale Auftritt der Gedenkstätte mehrere hilfreiche Formate für den (digitalen) Geschichtsunterricht. Zum einen stellt der Verein ein ausführliches Angebot an Quellen und Dokumenten in einem digitalen Archiv zur Verfügung (vgl. Abb. 1), zum anderen findet sich aktuelles Bild- und Informationsmaterial zur Gedenkstätte als Download. Dazu zählt beispielsweise auch das digitale Faltblatt zum Gedenkpfad um die Erinnerungsstätte: Auf einer maßstabsgetreuen Karte sind 12 Stationen mit Geo-Koordinaten und Erläuterungen verzeichnet (vgl. Abb. 2). Über einen Audioguide können zu den einzelnen Erinnerungspunkten kurze Sprachdokumente angehört werden.
Im Geschichtsunterricht könnten diese Sprachdateien mit einem QR-Code verknüpft und auf diese Weise individuell von den Schülerinnen und Schülern mit dem Smartphone abgerufen werden. Mithilfe der Informationstexte und des Audioguides kann sich eine Schulklasse (beispielsweise gestützt durch Onlinekarten wie Google Maps, Komoot, etc.) auf diesem Gedenkpfad auf digitale Spurensuche begeben.
In den professionell eingesprochenen Sprachdokumente ist der historische Hintergrund der Gedenkstätte für ein breites Publikum aufbereitet. Besonders wertvoll sind die Schilderungen von Zeitzeug*innen aus dem KZ, die den Hörenden die Geschehnisse auf einer persönlichen Ebene nahebringen.
Das oben genannte digitale Archiv wiederum enthält viele Dokumente, die sich für eine Arbeit mit Quellen hervorragend eignen (vgl. Abb. 1). Inhaltlich enthalten die Bereiche „Flugplatz Hailfingen“, „Kriegsgefangene / Zwangsarbeiter“, „KZ Außenlager: Listen / Dokumente“, „Jüdische Häftlinge: Portraits / Dokumente“ oder „Zeitungsartikel und Leserbriefe“ eine Vielzahl an Listen, Verzeichnissen, Tagebucheinträgen, Bilder, Karten oder Personenportraits, diese teilweise sogar als Zeitzeug*inneninterview im Videoformat.
Das Betrachten und Durchlesen der digitalisierten Häftlings-Nummernbücher, Totenmeldungen oder Einäscherungsverzeichnissen bringt die Schülerinnen und Schülern dem historische Erschließungsprozess sicherlich näher als so mancher Schulbuchtext. Allerdings sollte dieses umfangreiche Material im Voraus durch die Lehrkraft gesichtet und ausgewählt werden. Das bloße „Durchklicken“ des umfangreichen Bestandes an Dokumenten ohne Zielsetzung bzw. Fragestellung würde die Lernenden sonst überfordern. Nach einer vorherigen Auswahl an Quellen oder mittels einer gezielten Fragestellung für einen Rechercheauftrag können dann aber verschiedene Themenkomplexe aus dem Bereich des Nationalsozialismus aus dem Bildungsplan BW (z.B. Konzentrationslager, Vernichtungskrieg, Zwangsarbeit, Massenorganisation, Judenverfolgung und Holocaust) mit einer neunten oder zehnten Klasse exemplarisch erarbeitet werden. Nicht zuletzt die Frage der Verantwortung und Mitschuld der Bevölkerung an den nationalsozialistischen Verbrechen kann anhand der eigentlichen Aufarbeitungsgeschichte dieses KZs diskutiert werden (zum Beispiel: Wieso wurde erst 1986 eine Erinnerungstafel (jedoch ohne näheren Informationstext) errichtet ?).
Der Internetauftritt der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen eignet sich durch die angebotenen Materialien (vielfältige Quellen, Zeitzeug*inneninterviews, Audioguide, Lehrpfad und Aufarbeitungstexte) und deren vielseitige Einsatzmöglichkeiten sehr gut für einen digitalen Lernort. Besonders für Schülerinnen und Schüler aus den umliegenden Schulen im Einzugsgebiet Herrenberg, Rottenburg oder Tübingen kann der Ort und dessen Geschichte von besonderer Bedeutung sein. Der Gegenwartsbezug liegt hierbei in der geographischen Nähe: Nationalsozialistische Verbrechen an der Menschheit spielten sich nicht fern der Heimat ab, sondern fanden in unmittelbarer Nähe statt – und haben auch dort ihre Spuren hinterlassen.
Ein Beitrag von Hannes Killguss
Internetseiten (externe Links, letzter Zugriff am 04.09.2020):
KZ Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen:
https://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de
Audioguide:
http://www.gedenkpfad.info (Stand: 31.08.2020 im Aufbau, es fehlen zwei Stationen)
Informationen der Gemeinden Gäuflenden-Tailfingen und Rottenburg-Hailfingen über die Gedenkstätte:
https://www.gaeufelden.de/index.php?id=202
https://www.rottenburg.de/gedenkstaette.29806.htm?lnav=29858
Literatur:
Monika Walther-Becker, Das Lager Hailfingen, in: Herwart Vorländer (Hg.), Nationalsozialistische Konzentrationslager im Dienst der totalen Kriegführung – Sieben württembergische Außenkommandos des Konzentrationslagers Natzweiler/Elsaß, Stuttgart 1978, S. 149-174.
Volker Mall, Harald Roth, Johannes Kuhn, Alte & neue Spuren von Auschwitz ins Gäu, Schriftenreihe des Vereins KZ Gedenkstätte Hailfingen • Tailfingen e. V., Heft 5, erweitert und neu aufgelegt 2020, Gäufelden 2020.
*Bilder:
Herzlichen Dank an Johannes Kuhn für die Erlaubnis der Nutzung von Screenshots von den Inhalten der Seite: https://www.kz-gedenkstaette-hailfingen-tailfingen.de/ (Externer Link, letzter Zugriff am 04.09.2020).
Infospalte
Aktuelle Kategorie:
… auch interessant:
Eine Stunde History: Geschichte, aber immer mit Bezug zur Gegenwart
Verwandte Themen:
Geschichtslernen digital
Folge uns auf Twitter:
Kommentar schreiben