Im Frühjahr 1912 wurde der württembergische Gauverband des Frauenbunds der deutschen Kolonialgesellschaft gegründet. Ihm schlossen sich die verschiedenen Ortsgruppen aus Stuttgart, Esslingen, Ludwigsburg, Heilbronn, Reutlingen und Rottweil an. Der Verein berichtete dazu in seiner Vereinszeitschrift Kolonie und Heimat, dass das weibliche Interesse an kolonialen Arbeiten in Württemberg so erfreulich schnell gestiegen sei, dass die obig genannten Abteilungen inzwischen 570 Mitglieder zählten.[1] Bis 1914 wuchs der Frauenbund der deutschen Kolonialgesellschaft über das gesamte Kaiserreich verteilt auf beachtliche 18.680 Mitglieder an.[2]
Dass sich Frauen am kolonialen Projekt[3] des Deutschen Kaiserreichs beteiligten, war jedoch nicht von Anfang an vorgesehen. Zwar hatten sich einzelne deutsche Frauen schon sehr früh für eine weibliche Beteiligung eingesetzt, doch wurde dies von der männlichen Kolonialpolitik lange abgelehnt.[4] Zu gefährlich seien Klima, drohende militärische Auseinandersetzungen sowie die alltägliche Härte des kolonialen Alltags für Frauen.[5] Dies änderte sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem aufkommenden Bestreben, aus Deutsch-Südwestafrika (dem heutigen Namibia) eine deutsche Siedlungskolonie zu machen. Beziehungen zwischen deutschen Soldaten und schwarzen Frauen wurden nun zunehmend als Bedrohung für die angestrebte rassistische Reinhaltung der weißen Gesellschaft betrachtet und das Fehlen deutscher Frauen vor Ort als Grund dafür angesehen. Das Bestreben, diesem „Mangel“ entgegenzutreten, verlieh der sogenannten kolonialen Frauenfrage neue Dynamik und Akzeptanz. In diesen Kontext fiel auch die Gründung des Frauenbunds der deutschen Kolonialgesellschaft durch Frauen im Jahr 1907 in Berlin. Der koloniale Frauenverein organisierte von da an die Übersiedlung deutscher Frauen in die Kolonien und berichtete in der schließlich wöchentlich erscheinenden Zeitschrift Kolonie und Heimat über das Frauenleben in „Übersee“. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 erhielt der Verein jeden Tag circa 50 Anfragen von migrationsinteressierten Frauen und organisierte über die Jahre 561 Ausreisen in die deutschen Kolonien.[6] Eine dieser Frauen war Lydia Sick, die mit Hilfe des Reutlinger Ortsvereins im Jahr 1911 nach Lüderitzbucht in Deutsch-Südwest ausreisen konnte, um dort die Arbeit als Hausangestellte bei einem deutschen Apotheker anzutreten.[7]
Das weibliche Kolonialengagement und die Emanzipation
Obwohl koloniales Frauenengagement offensichtlich vorhanden war, wird das Verhältnis von deutschen Frauen und Kolonialismus in der Wissenschaft wenig thematisiert. Meist wird ihre Anwesenheit in den Kolonien auf ihre Rolle als Reproduktionskraft und damit als Opfer männlicher Machtpolitik reduziert oder zumindest das Engagement als im Grunde reaktionär dargestellt.[8]
Dass die Vereinsvorsitzende Hedwig Heyl zugleich als Frauenrechtlerin aktiv war, passt nicht zu dieser Bewertung. Aber auch der Beitritt des kolonialen Frauenbundes zum „Bund deutscher Frauenvereine“, worüber auf der 1911 in Stuttgart stattfindenden Jahreshauptversammlung des Vereins stolz berichtet wurde [9], steht einer solchen Interpretation entgegen. Schließlich war der „BDF“ die Dachorganisation der frühen Frauenrechtsbewegung. Aufgrund derartiger Verbindungen stellt sich vielmehr die Frage, wie sich weibliche Emanzipationsbestrebungen und der deutsche Kolonialismus zueinander verhielten. Kann das weibliche Kolonialengagement gar als emanzipatorisch betrachtet werden? Um eine Antwort darauf zu finden, stellen die Anfang des 20. Jahrhunderts erschienenen Frauenzeitschriften wichtige historische Quellen dar. So beschrieben und diskutierten die Frauen in den Zeitschriften ihre Vorstellungen weiblicher Partizipation in Gesellschaft und Politik.
Von Pflichten und Rechten
Bei einem Vergleich der kolonialen Frauenzeitschrift Kolonie und Heimat mit der wichtigsten Zeitschrift der damaligen Frauenrechtsbewegung DIE FRAU zeigen sich deutliche Gemeinsamkeiten in der Art und Weise, wie die Frauen ihre Partizipationsforderungen inhaltlich ausrichteten und argumentativ begründeten. Auffallend hierbei ist ihr stetiger Bezug zur „Pflicht“.
Die Autorinnen beider Bewegungen argumentierten für die Bewusstmachung, Anerkennung und Möglichkeit der Erfüllung der von ihnen formulierten Pflichten. So wird in den Zeitschriftenartikeln die Wichtigkeit von häuslichen Pflichten sowie mütterlichen Pflichten aufgezeigt. Sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum wird den häuslichen und mütterlichen Tätigkeiten ein entscheidender Wert für das Fortbestehen des deutschen Volkes zugesprochen. Um diese Tätigkeiten pflichtgetreu erfüllen zu können, bedürfe es entsprechender Bildungsmöglichkeiten für Frauen. Weiter geht aus den Artikeln hervor, dass sich die Frauen als Mitkämpferinnen in einer großen Kulturbewegung betrachteten. Die Frau müsse ihre kulturellen Pflichten in der Gesellschaft ausüben können, wenn diese kulturell nicht zugrunde gehen wolle. Damit definierten sich die Frauen als essenziellen Teil der nationalen und kulturellen Gemeinschaft und argumentierten für ihre Anerkennung in dieser Rolle. Sie sahen es als ihre Verantwortung, sich an nationalen Angelegenheiten zu beteiligen, um ihren nationalen Pflichten als deutsche Staatsbürgerinnen nachkommen zu können.
Durch die Ansicht, dass das Wohl des deutschen Volkes von den häuslichen, mütterlichen, kulturellen und nationalen Tätigkeiten der Frauen abhänge, erfuhr die weibliche Partizipation eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Indem allein sie in der Lage seien, diese notwendigen Aufgaben geschlechtsspezifisch zu erfüllen, wurden die entsprechenden Tätigkeiten zu einer Art Verpflichtung der Frau gegenüber der Gesellschaft gemacht. Vor diesem Hintergrund stellt sich der Kampf um Rechte und Partizipationsmöglichkeiten nicht als ein Kampf aus Eigeninteresse dar. Vielmehr lag es nach Ansicht der Autorinnen im Interesse aller, die Frauen ihre Pflichten erfüllen und damit gesellschaftlich partizipieren zu lassen – sowohl in der Kolonie als auch in der Heimat. Wenn also Engagement und Argumentation der bürgerlichen Frauenrechtsbewegung zu dieser Zeit als emanzipatorisch betrachtet wird, dann muss dies auf eine Weise auch für die koloniale Frauenbewegung gelten.
Emanzipation und Fortschritt
Ob die Reutlingerin Lydia Sick ihre koloniale Beteiligung als eine Pflicht gegenüber der Nation und/oder einen emanzipatorischen Akt betrachtete, lässt sich heute nicht mehr sagen. Wohl aber, dass der koloniale Frauenbund nicht völlig losgelöst von der Frauenrechtsbewegung dargestellt werden kann. Damit lässt sich das Bild der kolonialaktiven Frau als Opfer männlichen Machtstrebens nicht uneingeschränkt aufrechterhalten. Die koloniale Frauenbewegung in ihren Motiven als von Grund auf rückständig und konservativ zu kategorisieren oder Frauen als nicht handlungsfähig zu definieren, spricht die Frauen von jeglicher Verantwortung als kolonialen Täterinnen frei und verdeckt auch jene Seiten der ersten feministischen Welle. Dieser Beitrag aber zeigt, dass das emanzipatorische Engagement vielschichtig und widersprüchlich sein kann und plädiert daher für eine differenziertere Betrachtung der frühen Frauenbewegung.
Ein Beitrag von Marleen Buschhaus
Fußnoten:
[1] Vgl. Kolonie und Heimat Jahrgang 1911/1912, No.24: Mitteilungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft, S.8.
[2] Vgl. Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“ – Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich (Frankfurt a.M. 2005), S.88.
[3] Zwischen 1884 und 1899 kam es zur Errichtung deutscher Kolonien in Afrika, Nordostchina und im Pazifik. Zu Beginn ging das deutsche Kolonialstreben auf die private Initiative von Verbänden zurück, bis schließlich auch die Regierung kolonialpolitische Ziele verfolgte. Trotzdem spielten Kolonialvereinigungen die gesamte Zeit über eine wichtige Rolle. Insgesamt trat das Kaiserreich erst spät in den europäischen Kolonialexpansionismus ein und verlor die Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg 1919.
[4] Die Frauenbewegung Jahrgang 1899/1900, No.7: Der falsche Weg, S.61ff.
[5] Vgl. Wildenthal, Lora: Rasse und Kultur – Koloniale Frauenorganisationen in der deutschen Kolonialbewegung des Kaiserreichs, in: Kundrus, Birthe (Hg.): Phantasiereiche – Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus (Frankfurt a.M. 2003), S.205.
[6] Vgl. Walgenbach, Katharina: „Die weiße Frau als Trägerin deutscher Kultur“ – Koloniale Diskurse über Geschlecht, „Rasse“ und Klasse im Kaiserreich (Frankfurt a.M. 2005), S.88.
[7] Vgl. Kolonie und Heimat Jahrgang 1911/1912, No.3: Mitteilungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft, S.8.
[8] Die Forschungen von Martha Mamozai, Katharina Walgenbach, Lora Wildenthal und Anette Dietrich liefern wichtige Forschungsergebnisse zum kolonialen Frauenengagement.
[9] Kolonie und Heimat Jahrgang 1910/1911, No.42: Mitteilungen des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft, S.8.
Bilder (externe Links, letzter Zugriff am 08.03.2021):
*Aus Wikimedia Commons, Public Domain (keine bekannten Restriktionen):
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Simon (Dienstag, 09 März 2021 19:11)
Superinteressanter Text! Danke fürs Veröffentlichen.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch die didaktische Mädchenliteratur dieser Zeit, die jungen Leserinnen die Reise in die Kolonien nahe legen sollte. Das forcieren von Geschlechterordnung wird jungen Frauen als Aussicht auf Selbstwirksamkeit verkauft. Gisela Wilkending hat dazu einen echt guten Sammelband herausgeben (Mädchenliteratur der Kaiserzeit), der, obwohl der Ansatz eher literaturwissenschaftlich ist, für Historiker sehr aufschlussreich ist.