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Der „Deutsche Herbst 1977“ und „Offene Geschichte“

Fahndungsplakat zur „Baader/ Meinhof-Bande" (durch Klicken vergrößern). Bild: Bundesarchiv.
Fahndungsplakat zur „Baader/ Meinhof-Bande" (durch Klicken vergrößern). Bild: Bundesarchiv.

„Es ist Montag, 05. September 1977, 17:30h.

Der erste Tag im „Deutschen Herbst“ - so werden die kommenden Wochen später bezeichnet.“[1]

 

Es ist ein Spiel mit der Zeit. Zum einen wird das Ereignis minutengenau in einer vergangenen Gegenwart festgehalten. Zum zweiten wird explizit aus der Perspektive der bestehenden Gegenwart der Anfang eines Zeitraumes benannt, von dem man erst rückblickend weiß, wie lange er dauerte. Geschichte ist eine Organisation der Zeit im Nachhinein. Sie muss nicht so sein, wie sie erzählt wird. Mit einer anderen Absicht kann sie auch anders erzählt werden, dann erhält sie eine andere Bedeutung, immer unter der Prämisse der Belegbarkeit.

 

Junge Lernende betrachten dagegen fälschlicherweise, das ist weitläufig bekannt, Geschichte als eine Reihung von Ereignissen, die zwangsläufig so hätte verlaufen müssen. Junge Menschen verstehen Geschichte als etwas, bei dem man nur herausfinden müsste, was war. Und das wäre dann nur noch aufzuschreiben. Das sind Präkonzepte, also Vorannahmen darüber, wie Geschichte funktioniere, die die Lernenden kennenlernen müssen, wenn sie sie überwinden sollen. Dass Ursache und Folge, Kontinuität und Wandel erst im Nachhinein erkannt werden kann, ist eine epistemische Logik, die nicht selbstverständlich ist, sondern die gelehrt werden muss.

 

Helmut Schmidt am Rednerpult (durch Klicken vergrößern). Bild: (C) picture alliance via BKHS.
Helmut Schmidt am Rednerpult (durch Klicken vergrößern). Bild: (C) picture alliance via BKHS.

Helmut Schmidt hatte in der „berüchtigten“ Sitzung der Großen Lage am 06.09.1977 die damalige Zukunft zu adaptieren versucht, um vorbereitet zu sein, wenn sie eintrifft. „Das Undenkbare denken“ lautete seine Aufforderung an die beratenden Politiker. Es ging darum, nach dem Attentat der RAF auf Hanns Martin Schleyer, handlungsfähig zu sein, also den Terrorist*innen einen Schritt voraus zu sein. Die Alternativen zu kennen, führte zu einer maßvollen Sicherheit in der Ungewissheit, auch wenn letztere bliebe. Zum Zeitpunkt des Geschehens war alles offen.

 

Der „Deutsche Herbst 1977“ ist das neue Modul auf der historischen Lernplattform Offene-Geschichte.de. Lernende erfahren hier, wie unter Handlungsdruck Entscheidungen getroffen werden mussten, die nicht mehr revidierbar sein sollten. Ab dem 07. März 2022 gibt es ein Relaunch dieser Seite. Neben technischen Neuerungen haben wir darüber nachgedacht, wie wir Lernende in die Lage versetzen, Widersprüche zu erkennen und aufzulösen.

 

Bild: Offene-Geschichte.de (durch Klicken vergrößern).
Bild: Offene-Geschichte.de (durch Klicken vergrößern).

Lernende vollziehen Entscheidungen in Zwangslagen dann gut nach, so unsere ersten Beobachtungen nach einigen Testungen mit Pilotierungsklassen, wenn sie in authentisch angebotenen Situationen selbst eine begründete Entscheidung getroffen werden kann, und nicht nur eine Behauptung nachvollzogen werden muss. Christian Winklhöfer hat in einer klugen Zusammenstellung darauf hingewiesen, wie (historisches) Urteilen psychologisch zu betrachten ist: Als ein Übergang von einer heuristisch-impulsiven historischen Urteilsbildung zu einer systematisch-reflektierten historischen Urteilsbildung. Beide Modi können gleichzeitig existieren. „Die Kunst besteht […] darin, sich ihrer bewusst und bereit zu sein, sie zugunsten einer systematischen Urteilsbildung zurückzustellen und im Zuge des Erkenntnisprozesses anzupassen.“[2]

 

Auf Offene-Geschichte.de wenden wir beide Modi didaktisch an. Zunächst geben die Lernenden eine spontane Einschätzung ab, wie in einer historisch authentischen Situation zu entscheiden wäre. Eine Auseinandersetzung mit den Haltungen verschiedener Positionen aus der Zeit erfolgt erst im Anschluss, bevor eine erneute Beurteilung von ihnen vorgenommen wird. Die (Differenz-) Erfahrung der Lernenden zwischen ihrem Spontanurteil und dem dann ausdrücklich erarbeiteten historischem Urteil legt eine eingehendere Auseinandersetzung nahe. Der Unterschied zwischen beiden Urteilen steht hier deutlicher vor Augen.

 

Bild: Offene-Geschichte.de (durch Klicken vergrößern).
Bild: Offene-Geschichte.de (durch Klicken vergrößern).

Im Modul „Deutscher Herbst 1977“ übernimmt Helmut Schmidt persönlich das Krisenmanagement. Seine Berater warnen ihn davor, zu hoch sei das Risiko des Scheiterns. Schmidt will dennoch die Verantwortung tragen. Er weiß von Anfang an: „Diese Verantwortung heißt, nichts zu versäumen und nichts zu verschulden“, so in der Bundestagsrede am 15. September 1977. Er benennt selbst das Dilemma, dem kaum zu entkommen ist.

 

 

 

 

Lernende nehmen den Handlungsdruck offener Situationen wahr: Sie entscheiden sich für oder gegen Verhandlungen zum Austausch der Geisel, bevor das Bundesverfassungsgericht sein Urteil fällt. Sie positionieren sich zur Anordnung der Kontaktsperre, bevor sie erfahren, dass Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel sie ohne Zögern erließ. Und die Lernenden entscheiden sich zuerst für oder gegen die Veröffentlichung der Entführervideos, bevor die Verzögerungstaktik der Regierung thematisiert wird. Im Abgleich ihrer eigenen Entscheidung zu der letztlich historisch getroffen eröffnet sich ihnen ein Interpretationsraum, den sie benennen können. Im Geschichtsunterricht ist das Verfahren genau umgekehrt. Hier dominiert der Nachvollzug einer Entscheidung, die dann unverrückbar vor den Lernenden steht. Offene Geschichte meint aber, dass die vergangene Zukunft nicht unverrückbar war. Erst im Nachvollzug der Alternativen entsteht das historische Urteil.

 

Ein Beitrag von Rainer Lupschina

 

Link zum neuen Modul auf Offene-Geschichte.de: „Deutscher Herbst 1977“

 


Weiterführende Literatur:

von Borries, Bodo: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und Bildungsaufgabe, Opladen 2008.

Seixas, Peter: The big six historical thinking concepts, Toronto 2013.

Soell, Hartmut: Helmut Schmidt. 1969 bis heute, München 2008.

Terhoeven, Petra: Die Rote Armee Fraktion, München 2017.

Winkelhöfer, Christian: Urteilsbildung im Geschichtsunterricht, Frankfurt 2021.

 

Fußnoten:

[1] Zitiert von "Offene-Geschichte.de" unter Link: Offene Geschichte (offene-geschichte.de), (letzter Zugriff am 07.03.22).

[2] Winkelhöfer (2021), S. 15.

 

Bilder:

Für alle Bilder wurde eine Genehmigung der entsprechenden Institution eingeholt.


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