Teil 4: Geschichte des Impfens | Lesen Sie hier Teil 3
Bei den Bemühungen um eine weitreichende Immunisierung der Bevölkerung scheint das Impfen selbst sein größter Gegner zu sein. Denn je erfolgreicher eine Impfkampagne die Bevölkerung vor einer Seuche schützt, als desto ungefährlicher wird die Krankheit von Vielen wahrgenommen. Dies hat zur Folge, dass Präventionsmaßnahmen verstärkt als unverhältnismäßig angesehen werden, obwohl genau sie zur Eindämmung der Krankheit geführt haben. Nebenwirkungen und Impfschäden Einzelner wirken vor einer schwindenden Bedrohungskulisse stärker als die Gefahr durch Krankheitserreger. Das Neuverhandeln und Debattieren veränderter Gefährdungslagen ist dabei absolut richtig und wichtig. So ist eine Impfung gegen die Pocken mittlerweile unnötig geworden. Sie hat sich mit ihrem Erfolg quasi selbst abgeschafft. Doch der Schein kann trügen: Cholera mag zum Beispiel in Europa und Australien keine Rolle mehr spielen, auf allen anderen Kontinenten kommt es aber immer wieder zu Ausbrüchen. Für die Vorsorge ist es daher zentral, „abzuwägen zwischen Schäden, die eintreten, wenn vorbeugende Maßnahmen nicht oder nur gebremst erfolgen, und Schäden [die sie herbeiführen]“ (Hanning 2020).
Auch die Kinderlähmung Poliomyelitis, kurz Polio, konnte trotz erklärter Zielsetzung nie gänzlich ausgelöscht werden. Die Viruserkrankung zählte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zu den Schrecken aller Eltern und Kinder, denn sie konnte im schlimmsten Fall zu heftigen Lähmungen führen. Betroffene mussten teilweise durch die sargähnliche Druckkammer der Eisernen Lunge künstlich beatmet werden. Im Jahr 1955 wurde ein erster Impfstoff von Jonas Salk entwickelt, der 1960 von Albert Sabin zu einer süßschmeckenden Schluckimpfung weiterentwickelt wurde. Mit einer bundesweiten Impfkampagne Anfang der 1960er Jahre („Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist bitter/grausam“) konnte Polio dann innerhalb weniger Jahre in Deutschland besiegt werden. Die DDR hatte 1961 sogar eine Impfpflicht gegen Polio eingeführt. 1990 wurde der letzte Fall von Kinderlähmung in der Bundesrepublik gemeldet. Aber auch wenn sie weltweit selten geworden ist, kann es immer wieder zu Ausbrüchen kommen, wie etwa in Afghanistan und Pakistan. Ähnlich verhält es sich mit den Masern. Obwohl seit den Sechzigerjahren hervorragende Impfstoffe zur Verfügung stehen, verbreitet sich die Krankheit seit 2016 wieder global, mit geschätzten 200.000 Todesopfern pro Jahr (Gibis 2021). Eine bedenkliche Entwicklung, die vor allem auf Nachlässigkeit und niedrige Impfquoten zurückzuführen ist. Konsequenterweise führte die Bundesregierung im März 2020 eine Masernimpfpflicht in Schulen und Kitas ein.
Wie geht es weiter? Corona und mRNA-Vakzine
Bis vor kurzem bestanden die meisten Impfstoffe entweder aus einer niedrigen Dosis der pathogenen Substanz, aus abgeschwächten Stämmen oder aus abgetöteten Erregern mit intakter Oberfläche. Seit der Corona-Pandemie wird jedoch auch ein neuer Vakzin-Typ verimpft. Hersteller wie Moderna und Biontech brachten innerhalb kurzer Zeit wirksame mRNA-Impfstoffe (Eng.: messenger ribonucleic acid/De.: Boten-Ribonukleinsäure) auf den Markt. Diese genetische Boten-Impfstoffe lassen die Körperzellen des Impflings fremde Proteine herstellen, im Fall von SARS-CoV-2 z.B. das Spike-Protein der Coronavirus-Oberfläche. Immunzellen reagieren dann auf diese Proteine und stimulieren so eine Immunantwort, indem passende Antikörper gegen dieses Spike-Protein gebildet werden. Hierbei springt das Immunsystem gezielt auf die Andockstellen an, ohne dass das gesamte krankmachende Virus im Körper vorhanden sein muss. Die mRNA fungiert also als Bauplan für ein Antigen, der im Labor künstlich synthetisiert werden kann. Durch natürliche Prozesse des Körpers werden die Gene in der Folgezeit wieder abgebaut – die Impfwirkung jedoch bleibt. Entgegen mancher Behauptungen wird das Erbgut des Impflings dabei nicht beeinflusst. MRNA–Stränge sind zwar Arbeitskopien von DNA-Sequenzen, können aber umgekehrt nicht einfach in DNA umgeschrieben werden, da es hierfür an den notwendigen Proteinen mangelt. Zudem dringt die verwendete mRNA nicht bis zum Zellkern vor. Ferner ist die einsträngige RNA, im Gegensatz zur DNA-Doppelhelix, sehr instabil und wird schnell abgebaut. Auch aus diesem Grund fristete sie in der medizinischen Forschung lange Zeit ein Schattendasein. Um die mRNA für die Impfung zu schützen, wird sie deshalb in kleine Fettblasen verpackt (sog. Lipid-Nanopartikel), die das Molekül bis zur Zelle transportieren und durch Verschmelzung mit der Membran direkt in diese eindringen lassen.
Eine Pionierleistung der medizinischen mRNA-Forschung gelang dem Biologen Ingmar Hoerr 1999 an der Universität Tübingen. Er entdeckte, dass mRNA stabilisierbar ist und nicht zwangsläufig sofort zerfällt. Damit leistete er einen grundlegenden Beitrag zur Entwicklung von Impfstoffen auf Basis von Boten-Ribonukleinsäure. Das Potenzial dieser Methode wurde jedoch lange verkannt. Der Durchbruch gelang erst mit der Corona-Krise. Dabei haben mRNA-Impfstoffe mehrere Vorteile. Sie können theoretisch gegen unterschiedlichste Krankmacher (Viren, Bakterien, Krebszellen) eingesetzt werden. Sofern die benötigten Produktionsstätten errichtet sind, können sie außerdem schnell in großen Mengen hergestellt werden, da die Herstellungsmethode für unterschiedliche Vakzine nicht grundsätzlich verändert werden muss. Dabei sind sie auch leicht zu modifizieren, wodurch sie sich auch für Impfkampagnen gegen die sich ständig verändernde jährliche Grippe eignen. Die Covid-Vakzine von Biontech und Moderna zeigten in Studien beide eine hervorragende Wirksamkeit von über 90 Prozent, was in etwa der Schutzwirkung der etablierten Impfstoffe gegen Diphterie, Masern und Polio entspricht. In Fachkreisen verspricht man sich zukünftig deshalb viel von der Weiterentwicklung der mRNA-Impfstoffe. Auch wenn im Fall von Corona noch nicht klar ist, wie langfristig sie schützen und ob der Schutz eventuell regelmäßig aufgefrischt werden muss.
In der Gesamtschau ist das Impfen zweifellos eine Erfolgsgeschichte. Schreckliche Krankheiten sind dank der Prävention seltener geworden. Immunisierungen ist es zu verdanken, dass wir uns beim Skaten oder der Gartenarbeit keine Sorgen mehr um das Bakterium Clostridium tetani machen müssen, das den schmerzhaften und häufig tödlichen Wundstarrkrampf auslöst. Forscher um Emil Behring entwickelten schon ab 1890 die ersten Impfstoffe hiergegen. Mit Impfungen konnten Pocken ausgerottet, Diphterie und Polio zurückgedrängt und die Masern bekämpft werden. Doch die Geschichte des Impfens hat auch ihre dunklen Seiten: Versuche an Kindern bei der Entwicklung der Pockenimpfung, unsaubere Ausführungen bei früheren Impfkampagnen und auch Impfschäden und anderen Folgen sind hier zu nennen. Deshalb sind moderne Prüf- und Zulassungsverfahren für Arzneimittel unerlässlich. Ebenso wichtig sind wissenschaftlich fundierte Diskussionen und Abwägungen über das Verhältnis von staatlichen Maßnahmen und persönlicher Impfentscheidung. Und nicht zuletzt gilt es zu beachten, dass vor allem die Bewohner der Industrie- und Schwellenländer von dieser Erfolgsgeschichte profitieren konnten. So haben weite Teile der Bevölkerung des globalen Südens noch keinen Zugang zu Impfstoffen gegen das Corona-Virus. Zudem ist dort auch die Impfskepsis verbreitet. Die Schaffung von Bewusstsein ist also in vielerlei Hinsicht nötig, denn in einer globalisierten Welt macht die Pandemie vor keiner Grenze halt. Und es gibt nur einen Weg, sie einzudämmen: gemeinsam.
Ein Beitrag von Max Witzler
Literatur:
Websites:
Impfstoffe - Paul-Ehrlich Institut: https://www.pei.de/DE/arzneimittel/impfstoffe/impfstoffe-node.html
Impfen - Robert Koch Institut: https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/impfen_node.html
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: https://www.impfen-info.de/
Covid-19 und mRNA Impfstoffe - Schweizer Akademie der Naturwissenschaften: https://naturwissenschaften.ch/covid19-vaccination-explained/mrna_vaccines/wie_funktioniert_ein_mrna_impfstoff.
Bilder:
*Sakhaa24, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons.
File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/9/9b/Sars_cov2.jpg.
Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Sars_cov2.jpg.
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