„'68' war überall“[1] (Norbert Frei)
Hechingen, den 10. Mai 1969. Nachdem die Stadtkapelle und Bürgergarde Hechingen den Marsch „Preußen Gloria“ angespielt hatte, wurde ein Telegramm Kurt Georg Kiesingers verlesen. Der Bundeskanzler entschuldigte sich für sein Nichterscheinen. Andere Würdenträger waren jedoch präsent: Im Anschluss hielten Fürst Friedrich Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen und der amerikanische General David A. Burchinal Ansprachen. Sie erinnerten an einen Mann, der an der Seite George Washingtons eine entscheidende Rolle bei der Erringung der amerikanischen Unabhängigkeit gespielt hatte. General Friedrich Wilhelm von Steuben – der als Schlüsselfigur zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten galt – sollte an diesem Tag ein Gedenkstein gewidmet werden.[2]
Doch war solch ein ‚gestrig‘- anmutendes Zeremoniell 1968/69, zur Zeit der weltweiten Studierenden- und Schüler*innenproteste widerspruchslos möglich? Wie reagierten etwa die Schüler*innen des nur wenige Meter vom Gedenkstein entfernten Gymnasiums?
Gunter Tietz, der Chronist des Hechinger Gymnasiums, zeichnet ein ambivalentes Bild der Ereignisse: Einerseits stellt er fest, die Schülerschaft des Gymnasiums sei nicht „an Fragen der großen Politik“[3] interessiert gewesen. Er verortet das „Gymnasium Hechingen […] dabei [bei der „68er“-Bewegung, Anm. d. Ver.] […] eher im Windschatten“[4]. Andererseits findet sich dennoch ein schmaler Hinweis auf eine Demonstration der Schüler*innen, möglicherweise sogar einer unbequemen Störung der feierlichen Einweihung des Gedenksteins. Könnten dies Hinweise auf ein aktives Aufgreifen des „68er“- Zeitgeistes sein?
Gefeierter General, Hofmarschall – Münchhausen?
Friedrich Wilhelm von Steuben (1730- 1794), der schon in Kindestagen mit dem Militär in Berührung kam, war stets auf der Suche nach einer höheren militärischen Position. Diese führte ihn von der königlichen Residenz Friedrichs des Großen nach Hechingen, wo er unter Fürst Joseph Wilhelm von Hohenzollern-Hechingen als Hofmarschall diente. Letztendlich landete der General im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und trug dort zur Reorganisation der Armee bei. Für seinen Verdienst wurden dem General später zahlreiche Ehrungen zuteil – wie auch der Gedenkstein in Hechingen. [5] Seinem Nachruhm dürfte zuträglich gewesen sein, dass von Steuben – zu Lebzeiten getragen von einem „kreativen“ Wahrheitsverständnis – bewusst ein Bild von sich entwarf, das teilweise wenig mit der tatsächlichen Person übereinstimmte (z.B. durch die Änderung seines Nachnamens oder gefälschte Empfehlungsschreiben).6 Von Steuben ist ein gefeierter Nationalheld der USA und sein Andenken dort ist um ein Vielfaches präsenter als im Zollernalbkreis. Für die schwäbische Region hatte Steuben selbst wenig übrig: er betrachtete die zwölf Jahre in Hechingen als „verschleudert“[6].
Zwischen Parade und Protest
Die Gedenkfeier zur Ehrung Steubens wurde im Rahmen einer deutsch-amerikanischen Freundschaftswoche am 10.Mai 1969 vor der Villa Eugenia veranlasst.[7] Den Reden von Fürst und General folgte schließlich die Enthüllung des Gedenksteins. Sie wurde von einer uniformierten Fahnenabordnung der amerikanischen Truppenverbände, der US-Militärkapelle in historischer Uniform sowie einer Fahnenabordnung der Bundeswehr in preußisch-historischer Uniform begleitet.[8]
Die Feier sollte nicht nur das Lebenswerk Friedrich Wilhelm von Steubens, sondern implizit auch die USA-zentrierte Adenauersche Politik würdigen. Doch neben der Zeremonie wird etwas weiteres bemerkbar: die politische Teilhabe und das Interesse am politischen (aktuellen) Geschehen der Schüler*innen des Gymnasiums Hechingen.
Zwei Schüler*innengruppen hielten Plakate mit der Aufschrift „Gegen Militarismus und falschem Traditionalismus“ und ein Bildnis von Ernesto „Che“ Guevara in die Höhe. Ebenso waren entrollte Spruchbänder gegen den Einsatz amerikanischer Truppen in Vietnam zu sehen.[9] Doch zu den demonstrierenden Schüler*innen herrscht in zeitgenössischen Presseartikeln ein vielsagendes Schweigen. Zumindest eine vorsichtige Erwähnung erlaubt sich „Die Lichte Au“, die Jahreszeitschrift der ehemaligen Schulgemeinde des Staatlichen Gymnasiums. Hier ist von sich bemerkbar machenden „Ansätzen“ einer Demonstration zu lesen, bei der junge Menschen – nicht als Schüler*innen des Gymnasiums Hechingen bezeichnet - ein Guevara-Porträt sowie Spruchbänder hochhielten. Von den Plakaten fehlt auch hier jegliche Spur.[10] In weiteren Zeitungsartikeln und den dazugehörenden Fotografien werden die protestierenden Schüler*innen jedoch weder abgebildet noch auch nur ansatzweise genannt.[11]
Geschichtspolitik in Hechingen
Den lokalen Medien schien es wichtiger, das gewaltige Aufgebot der pompös gestalteten Zeremonie sowie speziell die friderizianischen Uniformen hervorzuheben. Sie betonten von Steubens hohenzollerische und preußische Identität und riefen preußische Militärnostalgie hervor. Durch diese Darstellung wurde die Erinnerung an den vorgestellten alten Ruhm unterstrichen, die Vergangenheit dadurch „verklärt“.
Eine Erwähnung der Schülergruppen hätte den Glanz der in Szene gesetzten „Gloria“ Preußens sowie die neue deutsch-amerikanische Waffenbruderschaft nur befleckt. Dies lässt Rückschlüsse auf die Hechinger Geschichtskultur der 1960er zu, da diese vorrangig die Ehrung Steubens hervorhebt, aber vor der Problematisierung der Einweihung – gerade in den Zeiten der epochalen Studentenproteste – zurückschreckt. Ihr gefiel es offensichtlich nicht, dass die Schüler*innen durch ihre Aktion und der damit verbundenen Kritik an Steuben als auch an der Festlichkeit selbst, das Ereignis in ein schlechtes Licht rücken lassen. Möglicherweise spielte dabei auch eine Rolle, dass sich die Plakate der Schüler*innen gegen die amerikanische Vietnam-Politik richteten und dies die Feierlichkeiten nicht stören sollte.
Doch es gilt auch, die Hechinger Schüler*innen als Akteur*innen in der geschichtspolitischen Auseinandersetzung mitzudenken. Was könnte sie provoziert haben? Neben dem implizierten Zuspruch zur US-amerikanischen Außenpolitik und dem konservativen Anstrich der Veranstaltung könnte auch die gefeierte Person selbst Auslöser des Protests gewesen sein: Friedrich Wilhelm von Steuben als Symbol des „preußischen Militarismus“. Unter „falschem Traditionalismus“[12] könnte einerseits die Hervorhebung des alten Ruhmes Preußens, andererseits aber auch die falsche Ehrung von Steubens als jemand, mit einem „kreativen“ Verhältnis zur Wahrheit, verstanden werden.[13] Die Kritik der Schüler*innen zielte auf den öffentlichen Umgang mit der Geschichte ab. Die Demonstrierenden fügten sich in den Zeitgeist am Ende der 1960er Jahre ein und griffen Ideen der Bewegung auf.
Es stimmt also - „'68' war überall“[14]. Zwar nicht mit der gleichen Intensität und Dynamik wie in Universitätsstädten wie Tübingen[15] - aber dennoch überall – auch am Gymnasium Hechingen.
Vielen lieben Dank an meine beiden ehemaligen Lehrer*innen Antonia Schmidt und Benjamin Bräuer, die mich tatkräftig beim Schreiben dieses Artikels und der Seminararbeit sowie während der Schulzeit unterstützt haben. Ein großes Dankeschön auch dafür, dass sie meine Begeisterung für das Fach Geschichte weckten!
[1] siehe Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2017, S. 234.
[2] Vgl. (Hrsg.): Die Lichte Au. Jahresschrift der Vereinigung ehemaliger Schüler, Schülerinnen, Lehrer und Freunde des Staatlichen Gymnasiums Hechingen, 20 (1969), S.88. Vgl. Buckenmaier, Franz: Kleindenkmale in Hechingen. Das Schattendasein des Steuben-Gedenksteins, Ulm 2019, https://www.swp.de/lokales/hechingen/kleindenkmale-in-hechingen-das-schattendasein-des-steuben-gedenksteins-32467793.html, (letzter Aufruf am 02.10.21).
[3] Tietz, Gunter, Geschichte des Gymnasiums Hechingen. Rückblick und Ausblick, 2019, Die Oberschule/ das Gymnasium Hechingen von 1945 bis 2012. 5. Die Oberschule/das Gymnasium Hechingen von 1945 bis 2012: Wandel und Kontinuität. 5.4 1965-1972: Bildungsexpansion, Interesse an und Engagement für aktuelle politische Fragen, erster und zweiter Erweiterungsbau, Errichtung des Sportzentrums. 1968/69, S. 205.
[4] Tietz 2019, S. 205.
[5] Vgl. Brüstle, Jürgen: Friedrich Wilhelm von Steuben. Eine Biographie, Marburg 2006, S. 31ff., 89ff., 100, 184, 187, 209, 241f.; Vgl. Zimmer, Mirjam: Unabhängigkeitskriege. Zur Hölle mit Ihren Befehlen, Sir!, in ZEIT ONLINE am 23.08.2011, unter: https://www.zeit.de/zeit-geschichte/2011/03/Unabhaengigkeitskrieg, (letzter Aufruf am 02.10.21).
[6] Zimmer 2011.
[7] Vgl. (Hrsg.): Die Lichte Au, 20 (1969), S.88. Sauter, Walter: General Friedrich Wilhelm von Steuben. In: Hohenzollerische Heimat, 20/1 (1970), S.4.
[8] Vgl. (Hrsg.): Die Lichte Au, 20 (1969), S.88. Vgl. Buckenmaier 2019.
[9] Vgl. Tietz 2019, S. 205.
[10] (Hrsg.): Die Lichte Au, 20 (1969), S.88f.
[11] Vgl. Fotografien zur Veranstaltung: Buckenmaier, Franz, https://www.swp.de/imgs/07/4/7/2/9/3/0/8/9/tok_3b160aa5e65ca2f640bc13ac929c5d65/w1176_h662_x750_y496_beff84f465a596f0.jpeg (Bürgergarde Hechingen), https://www.swp.de/imgs/07/4/7/2/9/3/0/8/9/tok_50d526d0346f4456467eb80db23af375/w1176_h662_x750_y470_fcc072aff4194e01.jpeg (US-Militärkapelle), https://www.swp.de/imgs/07/4/7/2/9/3/0/8/9/tok_e18562ff2873db69f631c4bda5c4f103/w1176_h662_x750_y369_cd714f5afcd27e3f.jpeg (Blick auf die Feier einschließlich des Steuben-Gedenksteins), (letzter Aufruf am 02.10.21).
[12] Vgl. Tietz 2019, S. 205.
[13] Vgl. Brüstle 2006, S. 149, 151, 241.
[14] Vgl. Frei 2017, S. 234.
[15] Vgl. Kuckenburg, Michael/ Setzler, Wilfried; Warneken/ Bernd Jürgen: Stadtmuseum Tübingen (Hrsg.), Tübinger Revolten. 1848 und 1968, 2018.
Weitere Literatur:
Kuckenburg, Michael; Setzler, Wilfried; Warneken, Bernd Jürgen, Stadtmuseum Tübingen, Tübinger Revolten. 1848 und 1968, 2018.
Lambrecht, Rainer, Friedrich Wilhelm von Steuben. Verdienste und Nachruhm – eine Denkmaltopografie, 2012.
Bild:
* Page-URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Baron_Steuben_by_Peale,_1780.jpg;
File-URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/cd/Baron_Steuben_by_Peale%2C_1780.jpg.
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