Sommer, Sonne, Volksfest! In Baden-Württemberg finden im Juli traditionell viele Volksfeste statt. Egal ob der Schwörmontag in Ulm, das Heilbronner Volksfest, das Seehasenfest in Friedrichshafen oder diverse Schützenfeste in jedem Dorf. Fast überall kann man über die Fressmeilen schlendern, mit dem Kettenkarussell fahren oder im Bierzelt eine kühle Maß Bier trinken. Ein fester Bestandteil vieler dieser Volksfeste ist die gelebte Tradition in Form eines historischen Festzugs. Am Beispiel des Rutenfests in Ravensburg soll gezeigt werden, wie ein solches Volksfest entsteht, wie dort mit Geschichte in der Öffentlichkeit umgegangen wird und wie Geschichte gelebt wird.
Wann genau das Rutenfest entstanden ist konnte bislang nicht geklärt werden. Jedoch findet sich in einem Beschluss des Ravensburger Rats vom 29. Dezember 1645 folgende Aufzeichnung:
“Ist einhellig geschlossen, daß sowohl der lateinische (so bißhero geschehen) alß der teursche Schuelmaister Jedes mahls umb Licenz des Gesangs, Ruetten gehens und all andere offentlichen Actuum gebüerendt anhalten … sollen”.[1]
Auch wenn sich aus dieser Quelle nicht der Entstehungszeitpunkt herauslesen lässt, so kann man andere wichtige Informationen durch sie gewinnen. Das Rutenfest war ursprünglich ein Schülerbrauch, der sich zu einem Volksfest gewandelt hat.[2] Der Begriff Rutenfest kommt von eben jenem Brauch, der zunächst auf Latein virgatum ire, später auf Deutsch in die Ruten gehen genannt wurde.[3] Die Ruten wurden hierbei wahrscheinlich als Symbol für den Frühlingseinzug von den Schülern[4] in die Reichsstadt Ravensburg getragen.[5] Ebenso wahrscheinlich ist, dass die Lehrer mit ihren Schülern in die Natur zogen, um dort die Ruten für das neue Schuljahr zu schneiden.[6] Die Entwicklung von einem reinem Schülerfest zu einem Stadt- und Volksfest, wurde vom Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) begünstigt. Die Menschen erreichten in der darauffolgenden Friedensperiode einen höheren Lebensstandard, was einen guten Nährboden für die Entstehung des Rutenfests bot.[7]
Auch wenn das Rutenfest heutzutage ein Fest der gesamten Stadt ist, stehen weiterhin die Schüler*innen im Mittelpunkt der Feierlichkeiten. Im Sinne der gelebten Tradition laufen diese am Festumzug mit. Das Festsymbol des Rutenfests ist auch heute noch der belaubte Zweig - die Rute - in den Händen der Schüler*innen.[8] Neben diesem Symbol sind wohl die verschiedenen Trommelgruppen, wie z.B. die Landsknechte oder das Trommlerkorps, eines der bekanntesten Zeichen des Rutenfests. Der Ursprung dieser Tradition soll ebenfalls im Dreißigjährigen Krieg liegen. Darauf weist ein Eintrag in das evangelische Ratsprotokoll vom 25.08.1685 hin, der sich über das “paucken” der Schüler beschwert.[9] Heute werden die Mitglieder werden zum großen Teil aus den Reihen der männlichen Schüler der Ravensburger Gymnasien rekrutiert. Erst seit dem Jahr 2022 nimmt auch die erste vollständig weibliche Trommelgruppe unter dem Namen Turmfalken teil.[10] Frauen waren für eine lange Zeit von essentiellen Teilen der Feierlichkeiten ausgeschlossen. Auch heute noch wird das sogenannte Adlerschießen nach Geschlechtern getrennt und ausschließlich von Gymnasiasten durchgeführt. Ist diese Tradition noch zeitgemäß?
Berichten zufolge soll das Rutenfest traditionell am Montag nach Mariä Himmelfahrt stattgefunden haben.[11] Heutzutage fällt der Rutenmontag auf den letzten Montag vor den Sommerferien. Nachdem der erste offizielle Festakt, die sogenannte Insignienübergabe am Rutenfreitag, das Fest eröffnet, finden über die folgenden Tage verteilt bis zum Rutendienstag unter anderem mehrere Schützenzüge, Trommelevents und Aufführungen des „Rutentheaters“ statt. Erst am Rutenmontag wird der große Festzug veranstaltet.[12]
Beim Festzug stehen vor allem Stadt- und Regionalgeschichte im Fokus. So wird mit Festwagen und kostümierten Schüler*innen und Erwachsenen erinnert und gefeiert. In dieser Art von Reenactment sind unter anderem die Zünfte der ehemaligen Freien Reichsstadt, die Große Ravensburger Handelsgesellschaft, und eng mit Ravensburg und dem Schussental verbundene Persönlichkeiten wie Welf IV., Heinrich der Löwe, Rudolf von Habsburg oder Konradin vertreten. Begleitet werden die Kostümträger*innen und Wagen von Trommler*innen-Gruppen, Fahnenschwinger*innen und Blasmusikgruppen.[13]
Handelt es sich aber bei der Inszenierung des Festumzugs um eine „historisch korrekte“ Darstellung oder verklärende Zurschaustellung von Kostümen und Bräuchen? Laut der Rutenfestkommission sind die Kostüme originalgetreu. Sie sind jedoch geprägt von den Geschichtsbildern der 60er Jahre und somit nach aktuellen historischen Erkenntnissen in ihrer Authentizität fragwürdig. Zudem sind die Laienschauspieler*innen in ihren Rollen nicht instruiert und spielen diese somit nach eigenem Ermessen. Geschichtliche Ereignisse werden schnell hintereinander abgehandelt und höchstens von einer*einem Stellvertreter*in moderiert. Diese Moderator*innen stellen die geschichtlichen Hintergründe nur in einem stark vereinfachten, losen Kontext dar.[14]
Muss das Rutenfest historisch korrekt und dem neuesten Forschungsstand entsprechend dargestellt werden? Zumindest sollte darauf aufmerksam gemacht werden, dass es sich nicht um wahrhaftige historische Begebenheiten handelt, sondern das Rutenfest - wie auch der Festumzug - auf einer eigenen Historie basieren. Die Geschichte vor dem Rutenfest selbst wird zwar teilweise verklärt, das Rutenfest selber jedoch ist ein Teil der gelebten Geschichtskultur. Das Rutenfest ist also selbst historisch, während es gleichzeitig auch eine lokale Erinnerungskultur pflegt und zum Leben erweckt.
Ein Beitrag von Wiebke Dohrmann, Raphael Fischer und Johannes Langosch
Fußnoten:
[1] Binder, Helmut: Das Rutenfest von den Anfängen bis in die Zeit um 1900. In: Helmut Binder; Alfred Lutz; Markus Glonneger: Das Ravensburger Rutenfest in Geschichte und Gegenwart. Biberach 1997, S. 9.
[2] Vgl. Ebd. S. 10.
[3] Vgl. Ebd.
[4] Hier absichtlich nicht gegendert, da man davon ausgehen muss, dass zu der Zeit der Entstehung des Brauchs nur männliche Schüler an den städtischen Schulen zugelassen waren.
[5] Vgl. Binder, Helmut: Das Rutenfest von den Anfängen bis in die Zeit um 1900. S. 10f.
[6] Vgl. Ebd. S.11.
[7] Binder, Helmut: Das Rutenfest von den Anfängen bis in die Zeit um 1900. S. 15.
[8] Rutenfestkommission Ravensburg e.V., 2022, https://das-rutenfest.de/rutenfest/ [Zuletzt abgerufen am: 23.07.2022].
[9] Binder, Helmut: Das Rutenfest von den Anfängen bis in die Zeit um 1900. S. 19.
[10] Adler, Bernd: Mädchen trommeln als Turmfalken an. In: Schwäbische Zeitung. Ausgabe vom
27.04.2022. Ravensburg 2022. https://www.pressreader.com/germany/schwaebische-zeitung-ravensburg-weingarten/20220427/281921661609651 [Zuletzt abgerufen am: 23.07.2022].
[11] Eben, Johann Georg: Versuch einer Geschichte der Stadt Ravensburg von Anbeginn bis auf die heutigen Tage, Bd. 2, Ravensburg 1832, S. 2000.
[12] Rutenfestkommission Ravensburg e.V., 2022, https://das-rutenfest.de/rutenfest/ [Zuletzt abgerufen am: 23.07.2022].
[13] Rutenfestkommission Ravensburg e.V., 2022, https://das-rutenfest.de/rutenfest/ [Zuletzt abgerufen am: 23.07.2022].
[14] Ebd.
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Bruno Scheb (Donnerstag, 28 Juli 2022 07:48)
Das seehasenfest hat mit Historie gar nix --überhaupt nix zu tun --dieses Häfler Fest gibt es erst seit 1949 --Ergo nach dem 2. Weltkrieg /// schützen BC /// Ruten RV /// Bächtle SLG ---das sind Historische Heimat Feste--seit Jahrhunderten
Nadine Seyfer (Donnerstag, 28 Juli 2022 19:40)
Ein toll recherchierter Beitrag! Ich war letztes Wochenende auf dem Rutenfest und wusste gar nicht woher das kommt. Sehr informativ…
AndreasP (Samstag, 30 Juli 2022 13:00)
Eine breitere kultur- und theatergeschichtliche Erforschung dieser Festzüge (für die das Rutenfest ja nur ein Beispiel ist) steht leider aus und wäre sicherlich ein sehr dankbares Thema für Wissenschafter*innen, die sich für Geschichtskultur und Volkskunde interessieren. Auch für die Theatergeschichte haben die Volksfeste einiges zu bieten (Schützentheater und Rutentheater gehören zur ältesten Handvoll noch gelebter Laientheaterbräuche in Deutschland, und auch die Rummelplätze hatten früher viele theatralische Angebote). Der Festzug gehört wohl aber nur am Rande dazu.
Dass hier von "Schauspieler*innen" am Festzug gesprochen wird, zeigt, dass die Autor*innen das Wesen eines süddeutschen historischen Festzugs in der Tradition des Historismus des 19. Jahrhunderts eventuell doch nicht so ganz verstanden haben. Es geht nicht um das Schauspielern, es geht um das Zurschaustellen. Also theatergeschichtlich gesprochen eher "lebendes Bild" als Drama. Es gibt kein Textbuch, keine Handlung, die Interaktion ist rudimentär (und eher peinlich: außer ein bisschen Wasser-Spritzen, "Küssen" und "Jubel!"-Rufen ist da fast nichts, und selbst das ist eher neu). Ich persönlich würde mich freuen, wenn mehr Interaktion in den Festzug kommt, bei der traditionellen Fasnet (nicht in Ravensburg, sondern in Fastnachtshochburgen) könnte man da einiges lernen. Vielleicht würde dann das Mitlaufen nicht nur den Kindern und Erwachsenen, sondern auch den Jugendlichen etwas mehr Freude machen...
Eine sehr richtige und wichtige Feststellung ist , dass das Rutenfest vor allem sich selbst feiert. Die Landsknechte z. B. sind 1900 aus einer Festzuggruppe entstanden, in der heutigen Kostümierung etwa aus den 1920er bis 1950er-Jahren. WIchtig ist hier nicht, dass etwa jedes Jahr nach neuester Forschung ein besonders akkurates Landsknechtskostüm entsteht oder gut erforschte originale Landsknechtslieder gespielt werden. Wichtig ist, dass die Landsknechte genau so sind wie 2019 oder 1950 (und seit Anfang des 20. Jh. "Landsknechtslieder" aus der romantisierenden Jugendbewegung spielen) - das schafft eine ganz eigene Tradition, die den Ravensburgern viel wichtiger ist als historische Genauigkeit.
Das Ruthenfest in Landsberg, die Kinderzeche in DInkelsbühl oder die Fürstenhochzeit in Landshut haben da ganz andere professionellere Ansprüche, die am Rutenfest nie entwickelt wurden, vielleicht auch, weil das Fest ausdrücklich kein Fest für Reenactment-Freaks sein soll, sondern allen ganz wichtig ist, dass es ein Schulfest bleibt, das ganz speziell für heutige und gerade auch ehemalige Schüler*innen gemacht ist.
Angie Schreiber (Dienstag, 02 August 2022 09:48)
Merci vielmals Andreas P. für diese mehr als interessante Erklärung!