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Das Gräberfeld X und der Umgang mit Opfern des Nationalsozialismus in Tübingen


Von der Begräbnisstätte des Anatomischen Instituts zur Entsorgungsstelle von NS-Opfern zu einem Ort des Erinnerns und Gedenkens: Seit seiner Einrichtung im Jahr 1849 blickt das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof auf eine Geschichte voller Wandlungen. Wer hier begraben liegt, blieb lange unbekannt. Erst die öffentliche Aufmerksamkeit der 1980er Jahre bewirkte die Aufarbeitung seiner Geschichte.


Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Bild: Bernhard Schnabel.
Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Bild: Bernhard Schnabel.

Ruhestätte der Anatomieleichen

In der nordöstlichen Ecke des Stadtfriedhofs, hinter dem Kriegerdenkmal für die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs, liegt das Gräberfeld X, das seine Bezeichnung der alphabetischen Nummerierung der Gräberfelder auf dem Friedhof verdankt.[1] Zwischen 1849 und 1963 wurden hier die sterblichen Überreste jener begraben, deren Körper dem Anatomischen Institut der Universität Tübingen für Forschung und Lehre zur Verfügung gestanden hatten. Die meisten von ihnen wurden in Präparierkursen oder chirurgischen Operationskursen genutzt. In die Anatomie eingeliefert wurden allerdings keine freiwilligen Körperspender wie sie heute anatomischen Instituten zur Verfügung stehen.[2] Bei den Toten handelte es sich um einzelne Hingerichtete[3]  und Selbstmörder, vor allem aber um Obdachlose und Arme, die ihr Begräbnis nicht selbst finanzieren konnten.[4] Während des Nationalsozialismus verbargen sich unter diesen Kategorien zunehmend Opfer staatlicher Gewalt, so zum Beispiel verstorbene Insassen von Gefängnissen oder Arbeitshäusern[5], aber auch zum Tode Verurteilte der NS-Justiz. Spätestens seit dem Überfall auf die Sowjetunion 1941vollzog sich im Leichenwesen der Anatomie ein sozialrassistisch orientierter Wandel. Von nun an bildeten vor allem in Kriegsgefangenschaft gestorbene sowjetische Soldaten, aber auch im Deutschen Reich ums Leben gekommene polnische Zwangsarbeiter einen erheblichen Anteil der Anatomieleichen. Zudem stieg mit fortdauerndem Krieg die Zahl Hingerichteter stetig.[6] Die Anatomie profitierte von den nationalsozialistischen Verbrechen durch eine deutlich gestiegene Zahl verfügbarer Leichen. Der Zweite Weltkrieg führte dazu, dass in der Anatomie „[e]in Mangel an Anatomieleichen (…) z. Zt. nicht“[7] bestand, ein Mangel, der den Betrieb der Anatomie bis dahin immer mitbestimmt hatte. Insgesamt 1077 Leichen, die meisten Opfer der NS-Vernichtungspolitik, kamen während der NS-Zeit in die Tübinger Anatomie, 623 von ihnen während des Zweiten Weltkriegs.[8] Begraben wurden sie auf dem Tübinger Anatomiefriedhof.

 

Kreuzgruppe mit den Jahreszahlen des Zweiten Weltkriegs. Bild: Bernhard Schnabel.
Kreuzgruppe mit den Jahreszahlen des Zweiten Weltkriegs. Bild: Bernhard Schnabel.

Nach dem Zweiten Weltkrieg: Vergessen und Verdrängen

Die Erinnerung daran, dass „auf dem Gräberfeld X Menschen begraben liegen, die durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat umgebracht wurden“[9], blieb nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zunächst rudimentär. 1952 übernahm die Stadt Tübingen auf Anraten der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VNN) die Ausgestaltung der Grabstätte. Um dem Grab mehr Würde zu verleihen, ließ die Stadt drei Kreuze mit den Kriegsjahren 1939 – 1945 als Inschrift errichten. Mit dem vom Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge e. V. übernommenen Kreuzgruppenmotiv erfuhr das Gräberfeld zwar erstmals öffentliche Anerkennung, jedoch unter „Verkennung der besonderen historischen Ereignisse, die ihm zugrunde lagen.“[10] Die ausbleibende Aufarbeitung der Geschichte der Grabstätte fügte sich nahtlos in die Tübinger Erinnerung an den Nationalsozialismus in den 1950er und 60er Jahren. Auch der Jüdische Friedhof in Wankheim gelangte erst im März 1959 wieder in den öffentlichen Diskurs.[11]

 

Etwas weiter reichten indes die Folgen der Entnazifizierung des Anatomischen Instituts. Robert Wetzel, seit 1936 Direktor des Instituts und seit 1938 „Führer des NSD-Dozentenbundes“[12], wurde wie alle Professoren, die Mitglied der NSDAP gewesen waren, 1945 seines Amtes enthoben. Allerdings ermöglichte ihm das „Gesetz zum Abschluss der politischen Säuberung vom 13. Juli 1953“ als „Mitläufer“ entnazifiziert wieder als Dozent an die medizinische Fakultät der Universität zurückzukehren.[13]

 

Erste Ansätze zur Aufarbeitung

Zum ersten Mal offen problematisiert wurde die nationalsozialistische Vergangenheit der Universität Tübingen 1963 vom Allgemeinen Studentenausschuss (AStA). Ein Resultat dieses studentischen Engagements zur Aufarbeitung der universitätseigenen Geschichte war im Wintersemester 1964/65 die Ringvorlesung „Deutsches Geistesleben Nationalsozialismus“.[14] Es war die erste Veranstaltung in der Bundesrepublik, die der Rolle verschiedener Wissenschaftsdisziplinen während der NS-Zeit nachging.[15] Von der neuen Dynamik blieb auch das Gräberfeld X nicht unbeeinflusst. Bereits 1963 hatte in der Stadtverwaltung eine Debatte über die würdige Gestaltung der Grabstätte begonnen. Die Diskussion um eine Gedenktafel mit einer geeigneten Inschrift auf dem Stadtfriedhof machte aber auch die immer noch vorhandenen Vorbehalte gegenüber einer inhaltlichen Aufarbeitung der Geschichte des Gräberfeldes X und der hier beigesetzten NS-Opfer deutlich. „Hier ruhen einige hundert Menschen verschiedener Völker, die in Lagern und Anstalten unseres Landes einen gewaltsamen Tod fanden“[16] hieß es auf der Inschrift, für die der Gemeinderat schließlich mit nur einer Stimmenthaltung votierte. Damit blieb die Geschichte des Gräberfelds unter dem Deckmantel der Vergessenheit, wenngleich 1965 immerhin das „Gesetz zur Erhaltung der Gräber von Krieg und Gewaltherrschaft“ der Grabstätte ein dauerndes Ruherecht zusprach.[17] Statt eine inhaltliche Aufarbeitung anzustrengen, beschied sich die Stadt Tübingen damit, am Volkstrauertag einen Kranz auf dem Gräberfeld X niederzulegen – genauso wie an den Kriegerdenkmalen.[18]

 

Zur Gedenkstätte von heute: Die Aufarbeitung in den 1980er Jahren

Beinahe zufällig brachte eine Planierraupe das Gräberfeld 1980 wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Die Gräber der vor dem Anatomiegräberfeld gelegenen Grabreihen sollten aufgehoben werden, weil das Ruherecht des Tübinger Friedhofs von 20 Jahren für diese Gräber abgelaufen war. Ein Mitarbeiter der beauftragten Firma stellte im Februar 1980 eine hierfür genutzte Planierraupe über ein Wochenende auf dem Gräberfeld X ab.[19] Die öffentliche Aufregung mündete schließlich in der Beauftragung eines städtischen Ausschusses mit der Konzeption einer „Ehrengrabanlage“ für das Anatomiegräberfeld.[20] Der Paradigmenwechsel der 1980er Jahre endete aber nicht mit der Umgestaltung der Grabanlage. 1985, anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes, wurde das Gräberfeld X erstmals Bestandteil der städtischen Erinnerungspolitik. Missverständnisse und das lückenhafte Wissen über die Grabstätte führten 1987 dazu, die historische Aufarbeitung des Anatomiegräberfeldes in Auftrag zu geben.[21] Das Ergebnis dieser Aufarbeitung war die Dokumentation „Das Gräberfeld X“ von Benigna Schönhagen, welche die über 40 Jahre lang ausgesparte Frage nach den Toten auf dem Anatomiegräberfeld beantwortete und die Verflechtung zwischen der NS-Vernichtungspolitik und der Tübinger Anatomie aufzeigte.[22] Als erste ihrer Art gilt die Studie bis heute als Standard für die detaillierte Aufarbeitung der Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus.[23] Neben dem Gräberfeld geriet auch das Anatomische Institut selbst in den Blick der Aufarbeitung. Im Wintersemester 1988/89 organisierte eine studentische Arbeitsgruppe der Fachschaft Medizin eine Ringvorlesung mit dem Titel „Medizin im Nationalsozialismus“ und forderte, die Präparatesammlungen der Anatomie auf Präparate zu überprüfen, die von Opfern des Nationalsozialismus stammen. Die gleiche Forderung vertraten auch die bundesdeutsche sowie die US-amerikanische und israelische Politik. Als Reaktion gründete der Senat der Universität Tübingen 1989 eine Kommission, welche die Sammlungen darauf überprüfen sollte, „ob und inwieweit sich darin noch Präparate von Opfern des Nationalsozialismus bzw. von Personen, bei deren Tod ein Zusammenhang mit Gewaltakten oder Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime jedenfalls nicht ausgeschlossen werden kann, befinden“[24]. In ihrem Schlussbericht empfahl die Kommission, alle Präparate aus den Sammlungen zu entnehmen, bei denen nicht zweifelsfrei belegbar ist, dass sie nicht von Opfern des Nationalsozialismus stammen.[25] Ähnlich wie Benigna Schönhagens Dokumentation zum Gräberfeld X, verlieh auch die Tätigkeit dieser Kommission dem Tübinger Beispiel nach Jahrzehnten des Verschweigens das Prädikat der Vorreiterrolle bei der Aufarbeitung der Geschichte von Universität und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft.

 

Bronzetafel mit Namen der bestatteten NS-Opfer. Bild: Bernhard Schnabel.
Bronzetafel mit Namen der bestatteten NS-Opfer. Bild: Bernhard Schnabel.

Die Geschichte des Gräberfeld X hat zahlreiche Wandlungen durchlaufen. Lange Zeit fanden hier Menschen aus sozialen Randgruppen als Tote der Anatomie ihre letzte Ruhe. Doch die Entgrenzungen des Nationalsozialismus, die auch vor dem Betrieb anatomischer Institute nicht innehielten, ließen auf dem Tübinger Stadtfriedhof ein Massengrab für Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik entstehen, das von der öffentlichen Erinnerung über mehrere Jahrzehnte ausgeblendet wurde. Erst seit der tiefgreifenden Aufarbeitung in den 1980er Jahren erinnern sechs Bronzetafeln auf der Gedenkstätte des Gräberfeld X an die Namen dieser Opfer. Heute weist auch eine am Gräberfeld aufgestellte Informationstafel auf die Gedenkstätte und die ihr zugrundeliegende Geschichte hin. Die Geschichten der Opfer erzählt seit 2021 die Datenbank des Forschungsprojekts „Gräberfeld X“[26] der Universität Tübingen.

 

Ein Beitrag von Bernhard Schnabel


Fußnoten:

[1] Vgl. Benigna Schönhagen: Das Gräberfeld X in Tübingen, in: Konrad Pflug, Ulrike Raab-Nicolai, Reinhold Weber (Hg.): Orte des Gedenkens und Erinnerns in Baden-Württemberg, Stuttgart 2007, S. 376–382, 376.

[2] Vgl. Ulrich Drews: Die Zeit des Nationalsozialismus am Anatomischen Institut in Tübingen. Unbeantwortete ethische Fragen damals und heute, in: Jürgen Pfeiffer (Hg.): Menschenverachtung und Opportunismus. Zur Medizin im Dritten Reich, Tübingen 1992, S. 93–107, 106.

[3] Vgl. Benigna Schönhagen: Das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof. Die verdrängte ‚Normalität‘ nationalsozialistischer Vernichtungspolitik, in: ebd. S. 68–92, 68.

[4] Vgl. Schönhagen: Das Gräberfeld X in Tübingen, S. 376.

[5] Über 170 Leichen wurden aus dem „Arbeitshaus Vaihingen“ in die Tübinger Anatomie eingeliefert. Vgl. Leichenbücher der Anatomie der Universität Tübingen, UAT 174/120 und UAT 174/37.

[6] Vgl. Benigna Schönhagen: Das Gräberfeld X. Eine Dokumentation über NS-Opfer auf dem Tübinger Stadtfriedhof, Tübingen 1987, S. 23.

[7] Der Reichsminister des Innern an den Herrn Württembergischen Innenminister, Betr.: Versorgung der Anatomischen Anstalt der Universität Tübingen mit Leichen, UAT 174/123.

[8] Vgl. Schönhagen: Das Gräberfeld X auf dem Tübinger Stadtfriedhof, S. 69.

[9] Oonagh Hayes: Gedenken anstoßen? Warum am Gräberfeld X (der Opfer) gedacht wird, in: Ludger Hermanns, Albrecht Hirschmüller (Hg.): Vom Sammeln, Bedenken und Deuten in Geschichte, Kunst und Psychoanalyse. Gerhard Fichtner zu Ehren, Stuttgart 2013, S. 37–61, 40.

[10] ebd. S. 41.

[11] Vgl. Martin Ulmer: Verdrängte Verbrechen und gefallene Helden. Wie sich Tübingen in den 1950er und 60er Jahren an den Nationalsozialismus erinnerte, in: ders. u.a. (Hg.): Vom braunen Hemd zur weißen Weste? Vom Umgang mit der Vergangenheit in Tübingen nach 1945, Tübingen 2011, S. 47–76, 50.

[12] Vgl. Philip Scharer: Robert F. Wetzel (1898 – 1962). Anatom, Urgeschichtler, Nationalsozialist (Dissertation), Tübingen 2012, S. 181. 

[13] Vgl. Stefan Zauner: Mit blankem Schild aus dem Dritten Reich gekommen? Die Entnazifizierung der Universität Tübingen, in: Ulmer u.a. (Hg.): Vom braunen Hemd zur weißen Weste?, S. 77–100, 91–94.

[14] Vgl. Andreas Flitner (Hg.): Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus. Eine Vortragsreihe der Universität Tübingen mit einem Nachwort von Hermann Diem, Tübingen 1965.

[15] Vgl. Ulmer, Verdrängt Verbrechen und gefallene Helden, S. 64–66.

[16] Schönhagen: Das Gräberfeld X, S. 14.

[17] Vgl. Schönhagen: Das Gräberfeld X in Tübingen, S. 377.

[18] Vgl. Schönhagen: Das Gräberfeld X, S. 14.

[19] Vgl. ebd. S. 15.

[20] Vgl. Hayes: Gedenken anstoßen?, S. 47.

[21] Vgl. Schönhagen: Das Gräberfeld X in Tübingen, S. 378.

[22] Schönhagen: Das Gräberfeld X.

[23] Vgl. Sabine Hildebrandt: The Anatomy of Murder. Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich, New York 2016, S. 13.

[24] Abschlussbericht der Kommission zur Überprüfung der Präparatesammlungen in den medizinischen Einrichtungen der Universität Tübingen im Hinblick auf Opfer des Nationalsozialismus, Tübingen 1990, S. 36.

[25] Vgl. ebd. S. 36–42.

[26] Vgl. https://graeberfeldx.de [10.11.2022].


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