Am 3. Juni 1822 kam Wilhelm I., König von Württemberg, für zwei Tage in die Universitätsstadt Tübingen. Die Universität war dabei der Schwerpunkt des königlichen Interesses.[1] Doch das freudige Ereignis fiel in eine Zeit von Spannungen um die Liberalität des jungen Herrschers (1781–1864). Noch täuschte der schöne Schein darüber hinweg, dass auch über der Freigeistigkeit der Tübinger Universität bereits dunkle Wolken aufzogen.
Am Morgen jenes sonnigen Montags ritt der Herrscher aus Stuttgart kommend von Lustnau her unter Glockengeläut in die Neckarstadt ein.[2] Dort waren bereits seit einigen Jahren erste Gebäude außerhalb der alten Stadtmauern entstanden. 1822 war gerade das „Museum“ fertiggestellt worden. Doch bis mit der Neuen Aula auch das Zentrum der Universität in die Vorstadt wandern würde, sollten noch einige Jahre ins Land ziehen. [3]
Am Gasthof Traube am Fuße des Österbergs wurde Wilhelm von den höchsten Vertretern der Universität, der Stadt und der Kirche begrüßt, außerdem vom Gesang eines Studentenchores. Nachdem er rasch im Gasthof sein Quartier bezogen hatte, zog er weiter in Richtung Innenstadt. Er inspizierte dort sämtliche Institute der Universität, ließ sich die bekanntesten Lehrer vorstellen und lauschte akademischen Ansprachen. Nicht fehlen durfte bei seinem Rundgang das Wilhelmsstift, dessen Gründung bereits in seine Amtszeit gefallen war. Erst kurz zuvor war das Institut nach Wilhelm selbst benannt worden.[4]
1816 hatte Wilhelm mit 35 Jahren den Thron bestiegen, auf dem er 48 Jahre lang sitzen sollte. Während die europäischen Großmächte die konservative Heilige Allianz etablierten, waren Wilhelms erste Regierungsjahre von einer vergleichsweise großzügigen Politik geprägt: 1819 ermöglichte er die Einführung einer Verfassung mit verbriefter Machtverteilung. Die württembergische Presse genoss große Freiheiten; an der Universität Tübingen wurden liberale Gedanken kaum beschränkt – anders als üblich in den deutschen Kleinstaaten. Insbesondere durfte das Waterloofest der Tübinger Burschenschaft Germania ungehindert stattfinden. [5] Doch die Heilige Allianz in Person von Preußen und Österreich setzte den liberalen König beständig unter Druck. So kam es im April 1822 zu einem politischen Urteil gegen den Reutlinger Politiker Friedrich List. Kraft seines Amtes als Abgeordneter in der Kammer der Landstände hatte er eine Petition eingereicht und darin gefordert, den Haushaltsplan jährlich vom Landtag kontrollieren zu lassen. Für seine Petition wurde er zu zehn Monaten Festungshaft auf dem berüchtigten Hohenasperg verurteilt. Das Ansehen König Wilhelms begann damit zu bröckeln.[6]
Am Abend des Anreisetages fand zu Ehren des hohen Gastes eine Festtafel statt. Dabei wurden auch mehrere poetische Vorträge zum Besten gegeben.[7] Ein Festgedicht aus der Feder des Philologen Karl Philipp Conz gab Herzog Alexander von Württemberg-Teck, des Königs Vetter und Student in Tübingen, zum Besten:[8]
[…] O reinster Schmuk in eines Fürsten Ruhme,
Der wie das Recht, auch treu die Künste pflegt!
Sein Volk beschüzt, und an dem Heiligthume
Der Menschheit baut, Sich selbst und Sein Geschlecht
Verherrlichend, der Pfleger ihrer Blume.
Ihr Licht scheut nur, wer Wahrheit scheut und Recht;
Nichts Hohes kann dem dunkelen gerathen,
Er wirft den Brand in seine eigne Saaten!
So Wilhelm nicht! Gleich frischen Maien – Birken
Grünt weit und duftet Seiner Ehre Reis. […] [9]
So harmlos diese salbungsvollen Zeilen klingen mögen: Selbst ihre Harmlosigkeit hat einen politischen Beigeschmack. So hatte Christoph Friedrich von Schmidlin, Leiter des Departements des Innern und des Kirchen‑ und Schulwesens, sich ausgebeten, dass sich die abendliche Runde „im allgemeinen mit dem Schutz, welcher der Universität zuteil werde, und mit der Unterstützung der Institute befassen“, dabei aber „die Liberalität des Königs ganz aus dem Spiele lassen sollte; der österreichische Beobachter möchte sonst leicht auf die Vermutung kommen, der König v. Württemberg hetze die Studenten auf“ [10]. Der „österreichische Beobachter“, ein Wiener Gesandter,[11] scheint schon durch seine bloße Gegenwart für weiche Knie in der Regierung gesorgt zu haben, was erneut den immensen politischen Druck illustriert.
Den Abend beschloss dann ein gesanglich untermalter Fackelzug der Studenten.[12] Am nächsten Morgen wurde Wilhelm I. feierlich aus der Stadt verabschiedet, erneut mit Glockenläuten und Musik.[13] In einem Brief wenige Tage später wirken die Repräsentanten der Universität noch immer vor Rührung geradezu geblendet: „Der ersehnte Tag, den Ew. Königliche Majestät uns allergnädigst schenkten, ist vorüber, aber die Erinnerung daran wird nie in uns erlöschen und unsere Herzen stets mit dem tiefstgefühlten Dank erfüllen.“[14] Und in einem Bericht von Stadt, Universität und Gerichtshof, der im „Schwäbischen Merkur“ erschien, ist von dem „hohen Glück eines Besuches Seiner Majestät, unseres allverehrten Königes“[15] die Rede.
All das Schmeicheln indes half wohl nichts. Denn nach einer zunehmenden Konfrontation Württembergs mit der Heiligen Allianz – es kam zum Abzug von Botschaftern, preußischen Bürgern wurde das Studium in Tübingen untersagt [16] – drehte sich der Wind. Ab Oktober 1822 war die Presse stärkerer Zensur ausgesetzt.[17] Auch Tübingen blieb schließlich nicht verschont: 1824 wurden 16 Burschenschaftler auf dem Hohenasperg inhaftiert, denen vorgeworfen wurde, die Spitze einer aus Tübingen gesteuerten Untergrundorganisation zu sein.[18] Gleichwohl ließ der König seinen Zwiespalt erkennen, indem er später bei einem prominenten Häftling um Verständnis warb. Auch lockerte sich alsbald der Umgang mit den Inhaftierten.[19] Aber die Entwicklung ging weiter: 1829 wurde schließlich auch die organisatorische Selbstständigkeit der Universität eingeschränkt.[20]
Wilhelms Besuch in Tübingen fand in einer politisch aufgeladenen Zeit statt. Der neue König wurde von den Großmächten unter Druck gesetzt, seinen liberalen Kurs aufzugeben. Gewiss gibt es hier Spielraum für Spekulationen, welche Botschaft genau der Besuch des Königs in Tübingen nach außen vermitteln sollte. Umgekehrt liegt es nahe, dass der ungeheure Aufwand an Ehrenbezeigungen und Unterhaltungsprogramm auch als verzweifelter Versuch zu verstehen ist, den König in seinem freiheitsfreundlichen Kurs zu bestärken. Doch die allgemeine politische Tendenz in Europa machte solche Versuche vorerst zunichte.
Wilhelm, der sich in seiner langen Regierungszeit einen Ruf als Modernisierer und Begründer einer inneren württembergischen Einheit erarbeitete,[21] war somit in seinen ersten Jahren auf dem Thron eine schillernde Figur. Nichtsdestoweniger wurde 1843 jene Straße nach ihm benannt, über die er 1822 nach Tübingen hereingeritten war: die Wilhelmstraße.[22] Mag auch sein Besuch langfristig große Sympathien für den Herrscher gezeitigt haben, stellt sich doch die Frage, wie groß sein Verdienst um die Werte der Universität tatsächlich ist.
Ein Beitrag von Johannes Thiede
Literatur:
Schwäbischer Merkur vom 8. Juni 1822 (Nr. 137), Schwaben, S. 303 f.
Eck, Helmut: Die Tübinger Straßennamen – vielfach umbenannt. Ein stadtgeographischer Beitrag zur Geschichte und Bedeutung der Tübinger Straßennamen, Tübingen 2017.
Lagler, Wilfried: „Ueberall beglückte mich Hochderoselbe mit Freundlichkeit und Wohlwollen“. Königlicher Besuch in Tübingen vor 200 Jahren, in: Tübinger Blätter 108 (2022), 50–53.
Melk, Christina: Tübinger Ansichten und Maler im 19. Jahrhundert. Eine Ausstellung im Winter 1986/87, Tübingen 1986.
Miller, Max: König Wilhelm I. besucht die Universität Tübingen, in: Tübinger Blätter 25 (1934), 44–48.
Müth, Reinhard: Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz, insbesondere von 1825 bis 1837, Tübingen 1977, zugl. Diss. Univ. Tübingen 1977.
Sauer, Paul: Reformer auf dem Königsthron. Wilhelm I. von Württemberg, Stuttgart 1997.
Fußnoten:
[1] Vgl. Lagler, S. 50.
[2] Vgl. Schwäbischer Merkur, S. 303.
[3] Vgl. Melk, S. 28–30.
[4] Vgl. Miller, S. 44–46.
[5] Vgl. Müth, S. 36 f.; Sauer, S. 7 und 283.
[6] Vgl. Sauer, S. 251 f.
[7] Vgl. Miller, S. 46f.
[8] Vgl. Lagler, S. 53.
[9] Conz, Karl Philipp: Dem Könige im Namen der dankbaren Universität, o. O. 1822, zit. nach: Lagler, S. 52.
[10] Miller, S. 47.
[11] Vgl. Müth, S. 36.
[12] Vgl. Schwäbischer Merkur, S. 304.
[13] Vgl. Miller, S. 47; Schwäbischer Merkur, S. 304.
[14] Miller, S. 48.
[15] Schwäbischer Merkur, S. 303.
[16] Vgl. Müth, S. 40.
[17] Vgl. Sauer, S. 293.
[18] Vgl. Müth, S. 41; Sauer, S. 250f.
[19] Vgl. Sauer, S. 250f.
[20] Vgl. Miller, S. 44.
[21] Sauer, S. 7 und 145.
[22] Eck, S. 83.
*Bild (letzter Zugriff 06.12.2022):
Direkt-Link: https://bawue.museum-digital.de/object/380
Quelle (C): 1_19151729001.jpg: CC BY-SA / Landesmuseum Württemberg, Stuttgart/P. Frankenstein; H. Zwietasch / https://bawue.museum-digital.de/singleimage?resourcenr=806.
Infospalte
Aktuelle Kategorie:
… auch interessant:
Interview mit der Kuratorin Fiona Siegenthaler
Verwandte Themen:
Geschichtslernen digital
Folge uns auf Twitter:
Kommentar schreiben