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Eine Lokalgeschichte von Besatzung, Neubeginn und Freundschaft – Der virtuelle Stadtrundgang „Die Franzosen in Tübingen 1945-1991“ (Teil 1)



Bild: (C) Universität Tübingen.
Bild: (C) Universität Tübingen.

Vive l’amitié franco-allemande! Vor fast 60 Jahren – am 22. Januar 1963 – besiegelten Charles de Gaulle und Konrad Adenauer mit dem Elysée-Vertrag eine freundschaftliche und neue Phase der deutsch-französischen Geschichte nach den Weltkriegen. Diese zunächst durch die französische Besatzung geprägte Zusammenarbeit begann auf lokaler Ebene bereits in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs. In Tübingen waren von 1945 bis 1991 französische Soldaten stationiert. Unter der Leitung von Dr. Johannes Großmann, Historiker an der Universität Tübingen, und Dr. Matthieu Osmont, ehemaliger Leiter des Institut culturel franco-allemand Tübingen, sind Studierende der Universität Tübingen diesen Spuren nachgegangen und haben einen  virtuellen Stadtrundgang konzipiert.

Bild: (C) Universität Tübingen, Fotograf: Friedhelm Albrecht.
Bild: (C) Universität Tübingen, Fotograf: Friedhelm Albrecht.

Dr. Johannes Großmann, Mitglied des Deutsch-französischen Historikerkomitees[1] und 2016 für das Projekt des virtuellen Stadtrundgangs mit dem Lehrpreis der Universität Tübingen ausgezeichnet, gibt im Interview einen Blick hinter die Kulissen.

 

Eine Überblicksfrage am Anfang: Wie würden Sie die Geschichte der Franzosen in Tübingen charakterisieren?

Zunächst einmal muss man von einseitigen Interpretationen Abstand nehmen. Es gibt klassischerweise zwei Blicke auf diese Besatzungszeit. Der eine Blick sagt: Die Franzosen waren ganz schlimme Besatzer. Die Kulturpolitik diente nur dazu, das zu kaschieren. Das andere Extrem lautet: Die Franzosen sind ganz offen zu den Deutschen gekommen und haben sich für Annäherung und Demokratisierung eingesetzt und eine in die Zukunft gerichtete Besatzungspolitik betrieben.

 

Wie so oft in der Geschichte liegt die Wahrheit zwischen diesen Extremen und es kommt stark darauf an, auf welche Akteure man blickt. Es gab Akteure, die sehr positiv gegenüber den Deutschen eingestellt waren – bei all dem, was während des Zweiten Weltkriegs passiert ist, doch eher verblüffend – und die auch eine in die Zukunft gerichtete Politik betrieben haben, die auf Demokratisierung und Bildung der Deutschen zielte: Die Universität in Tübingen war die erste Universität, die nach dem Krieg in Deutschland wieder eröffnet wurde, weil den Franzosen dieser Bildungsaspekt ganz wichtig war. Auf der anderen Seite gab es auch Akteure, die sahen, welch katastrophale Zustände durch die deutsche Besatzung in Frankreich entstanden waren und die nicht unbedingt großes Interesse daran hatten, es den Deutschen besonders gut gehen zu lassen.

 

Das heißt, wir müssen stärker differenzieren zwischen einzelnen Akteuren und Phasen. Zu Beginn gab es eine Phase, die mit Konflikten einherging beim Einmarsch der Franzosen, der beispielsweise mit sexueller Gewalt einherging. Insbesondere die französischen Kolonialtruppen wurden hier verdächtigt. Diese zeitgenössische Wahrnehmung ist allerdings nicht immer verlässlich. Anschließend kam es erstaunlich zügig zu konstruktiven Ansätzen und einer Kooperation, wo dann auch auf deutscher Seite einige Akteure wichtige Ansprechpartner wurden, wie z. B. Carlo Schmid.

 

Bild: (C) Universität Tübingen. Durch Anklicken vergrößern.
Bild: (C) Universität Tübingen. Durch Anklicken vergrößern.

Wie kam es zu der Idee, diesen Stadtrundgang virtuell zu erstellen?

Das ist von Beginn an ein Kooperationsprojekt mit Matthieu Osmont gewesen, der das deutsch-französische Kulturinstitut damals geleitet hat und selbst auch promovierter Historiker ist. Wir kannten uns vorher zufällig von einer Tagung und haben uns, als er im Sommer 2014 hier angefangen hat, überlegt, ob wir nicht ein Projekt zusammen auf die Beine stellen können. Dann kamen wir sehr schnell auf die französische Besatzung in Tübingen, weil er auch in Berlin zur Besatzung gearbeitet hatte. Wir haben dann entschieden, dass wir ein Seminar dazu gestalten und auch etwas Greifbares daraus entwickeln wollen.

Der Gedanke eines virtuellen Stadtrundgangs wurde schon vor Beginn des Seminars geboren. Wie das genau aussehen sollte, haben wir dann einerseits mit den Studierenden besprochen. Andererseits haben wir uns Partner mit ins Boot geholt. Zum einen die Stadt, die uns dafür auch unterstützt hat, und zum anderen die Tübinger IT-Firma Heindl, die das dann mit uns zusammen technisch umgesetzt hat. Ich würde behaupten, dass das tatsächlich eines der ersten derartigen Projekte war. Inzwischen hat es Schule gemacht. Es gibt einige virtuelle Stadtrundgänge, gerade auch zu kolonialen Zusammenhängen, aber auch zur NS-Zeit. Insofern waren wir hier so ein bisschen Vorreiter mit diesem Konzept eines virtuellen Stadtrundgangs.

 

Was ist das Konzept des virtuellen Stadtrundgangs?

Die Kernidee ist erstmal: Wenn man ganz klassischerweise einen Stadtrundgang macht, muss man sich erst anmelden und das ganz gezielt wollen. Man muss wissen, wofür man sich interessiert. Unser Gedanke war, dass wir all das ermöglichen, aber darüber hinaus auch Gelegenheiten bieten wollen, diesem Thema zufällig irgendwo in der Stadt zu begegnen. Gleichzeitig haben wir uns angesehen, was in Tübingen sonst noch diskutiert wurde. Insbesondere der geplante Lehrpfad zur NS-Geschichtesorgte damals für große Auseinandersetzungen, weil natürlich nicht jeder unbedingt eine Stele zur NS-Geschichte vor seiner Haustüre stehen haben will. Daran zeigt sich, dass das materielle Einpflanzen einer Erinnerungskultur oftmals mit Problemen konfrontiert ist, die dann vielleicht auch die thematische Auseinandersetzung überlagern.

 

Der Gedanke bei unserem virtuellen Stadtrundgang ist: Den kann man machen, und niemand kann sich daran stören, weil es vor Haustüren sichtbare Spuren hinterlässt. Niemand kann einen virtuellen Stadtgrundgang entfernen oder beschädigen, weil er im Internet abrufbar ist. Gleichzeitig haben wir versucht, diesen Aspekt der fehlenden Stelen dadurch aufzufangen, dass wir kleine QR-Code-Aufkleber an den jeweiligen Stationen angebracht haben. So ist es möglich, dass Leute zufällig darüber stolpern und über die QR-Codes in den größeren Zusammenhang der einzelnen Orte einsteigen können.

 

Das Konzept umfasst einerseits eine kurze Einführung in die Geschichte der französischen Präsenz in Tübingen. Es geht auch um Orte, die über das Ende der Besatzungszeit – also über 1949 bzw. 1955 – hinaus wichtige Begegnungsorte gewesen sind. Insofern verfolgen wir diese Geschichte vielerorts auch bis in die 1980er/90er Jahre weiter, bis die Franzosen aus Tübingen abgezogen sind. Es ist genau dieser Wandel von der ‚Besatzungsbeziehung‘, sag ich mal, hin zu einer kooperativen freundschaftlichen Beziehung zwischen beiden Ländern, die hier in Tübingen vor Ort ganz gut nachvollzogen werden kann.

 

Das virtuelle Format bietet außerdem Möglichkeiten, unterschiedliche Medien einzuspielen. Einerseits hatten wir Originalfotografien aus dem Stadtarchiv, andererseits hatten wir mit Bernd Kleeschulte einen Fotografen an der Hand, der kostenfrei die einzelnen Orte besucht und sie in ihrem heutigen Zustand aufgenommen hat. So sind die Leute, wenn sie den Stadtrundgang nutzen, nicht verwirrt, weil der Ort plötzlich völlig anders aussieht als auf den historischen Fotografien. Außerdem haben wir nicht nur Texte zu diesen einzelnen Orten geschrieben, sondern wir haben diese Texte auch als Audiofiles eingesprochen. So kann man den virtuellen Stadtrundgang auch als Audioguide nutzen, während man sich durch die Stadt bewegt und die einzelnen Orte besucht.

 

Bild: (C) Universität Tübingen. Durch Anklicken vergrößern.
Bild: (C) Universität Tübingen. Durch Anklicken vergrößern.

Zudem haben Sie das Ganze auch noch auf Französisch übersetzt.

Genau. Das war nicht Teil der ursprünglichen Konzeption, weil es auch eine Frage der Mittel und der Möglichkeiten war. Das war erst möglich, weil wir für das Projekt den Lehrpreis der Universität Tübingen erhalten haben. Vom Preisgeld haben wir die Übersetzung finanziert mit der Idee im Hinterkopf, noch in Frankreich lebende Soldaten oder ihre Angehörigen zu erreichen.

 

Haben Sie für die Auswahl der Stationen auch mit Zeitzeug*innen beider Nationen gesprochen? Aufgrund welcher Kriterien wurden die verschiedenen Stationen ausgewählt?

Wir haben mit Zeitzeug*innen gesprochen – allerdings nur mit Deutschen, die jetzt noch vor Ort waren. Ein Beispiel ist Martin Schmid, Sohn von Carlo Schmid. Genauso haben wir Zeitzeugengespräche mit ein paar anderen Akteuren zu einzelnen Aspekten im Rahmen des Seminars geführt. Das ist aber nicht essenziell für die Auswahl der einzelnen Orte gewesen.

 

Die Auswahl basiert auf den Arbeiten, die die Studierenden gemacht und wir im Seminar diskutiert haben. Dann haben wir überlegt, nach welchen Kriterien wir diese Orte für den virtuellen Stadtrundgang aussuchen. Einerseits wollten wir natürlich die wichtigsten Orte sammeln bzw. die, die aus unserer Sicht die bedeutendsten waren. Andererseits wollten wir aber – und das widerspricht dieser Logik jetzt natürlich ein bisschen – auch Orte sichtbar und wieder sichtbar machen, die als solche vielleicht gar nicht mehr existieren.

 

Vielen Dank für das Interview!

Ein Beitrag von Maren Brugger 


QR-Codes zum digitalen Pfad (links DE; rechts FR):


Weiterführende Informationen

Der virtuelle Stadtrundgang mit Archivmaterial ist aufrufbar unter: http://franzosen-tuebingen.de/.

Auf der Website kann man sich nicht nur die eingesprochenen Texte als Audiofiles herunterladen, sondern auch einen Flyer (http://franzosen-tuebingen.de/wp-content/uploads/2017/09/FranzosenTuebingen_Flyer.pdf), wenn man eine oder mehrere der vier Routen ablaufen möchte. Die Routen führen durch die Altstadt (1), die Universitätsstadt (2), Österberg und Neckar (3) sowie durch die Südstadt (4).

 

Zudem werden für Interessierte ausführlichere Hintergrundinformationen, Kurzbiographien und weiterführende Literaturhinweise gegeben.

 

Fußnoten:

[1] Das seit 1988 existierende deutsch-französische Historikerkomitee besteht aus deutschen und französischen Historiker*innen und Wissenschaftler*innen aus benachbarten Fachrichtungen. Das Komitee versteht sich als binational und fördert die Zusammenarbeiten zwischen den Fachkolleg*innen beider Nationalitäten und vergibt auch einen Dissertationspreis, vgl. http://www.historikerkomitee.de/?page_id=17 (29.12.2022).



Interview vom 16.12.2022, Tübingen.


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