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Der Mössinger Generalstreik – wie sich ein Dorf erinnert


Es ist 90 Jahre her, dass Mössinger Bürger*innen den Mut hatten, gegen die Machtergreifung Hitlers aufzustehen, ihre Stimme zu erheben und für die Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen. Diese Courage beeinflusst und prägt die kleine Stadt und ihre Bewohner*innen bis heute. Doch was bleibt von solch einem Ereignis übrig? Wie erinnert man daran? Wie ist es aus heutiger Sicht zu bewerten? 


Gedenktafel in Mössingen. Bild: Maja Meister.
Gedenktafel in Mössingen. Bild: Maja Meister.

Nachdem Adolf Hitler am 30.01.1933 von Paul von Hindenburg zum Reichskanzler ernannt wurde, rief die KPD für den darauffolgenden Tag zum Streik auf und hoffte auf die Unterstützung der Gewerkschaften. Nicht viele folgten diesem Aufruf, doch in dem circa 4000 Einwohner*innen großen Dorf Mössingen beteiligten sich über 800 Bürger*innen an der Protestaktion. Durch die Besetzung und Stilllegung der drei größten produzierenden Textilbetriebe Pausa, Merz und Burckhard wollte man ein Zeichen gegen die neusten politischen Ereignisse setzen und an die Vernunft der Bürger*innen appellieren. Der Streikzug führte durch ganz Mössingen und wurde letzten Endes von der Reutlinger Schutzpolizei durch Gummiknüppel und Pistolen gewaltsam beendet.  Wegen ihrer Teilnahme am Streik wurden 80 Bürger*innen wegen Landfriedensbruch und Hochverrats verhaftet und bis zu viereinhalb Jahren Haft verurteilt. Erst 1948 wurden diese Urteile offiziell aufgehoben und der Mössinger Generalstreik als Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime anerkannt.[1]

 

Lange Zeit wenig beachtet rückte der Generalstreik in den 1980er Jahren wieder in das Bewusstsein der Bürger*innen und damit auch die verbundene Aufarbeitung.

Dies war ausschlaggebend für eine Vielzahl verschiedener Erinnerungsformen.

Jan Schütte, ein SWR-Journalist und Filmemacher, hielt die Erinnerung am Anfang der 1980er Jahre in seinem Film „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ in Form von Interviews mit Zeitzeug*innen fest und ehrte den Generalstreik mit seiner Arbeit zum 50. Jahrestag.[2]

Hier wurde das Augenmerk auf die Wahrnehmung der daran beteiligten Bürger*innen und deren Angehörige gelegt. Durch die Interviews wurde der Generalstreik in ein positives Licht gerückt, er sollte den beabsichtigte Widerstand gegen die Machtübernahme der Nationalsozialisten zeigen.

 

Bild: Maja Meister.
Bild: Maja Meister.

Heute befindet sich an der Langgass-Turnhalle in Mössingen – dem Ausgangspunkt des Generalstreiks – die oben abgebildete Gedenktafel.

Darüber hinaus wurde zum 80. Jahrestag des Streiks das Theaterstück von Franz Xaver Ott „Ein Dorf im Widerstand“ generationsübergreifend von Mössinger Bürgern*innen unter der Regie von Philipp Becker inszeniert und aufgeführt.[3] Neben Straßen- und Platznamen wie dem „Jakob-Stotz-Platz“ in der Mössinger Stadtmitte, der an einen der Anführer des Streikes erinnert, wird nach wie vor mit vielen Zeitungsartikeln, Vorträgen und Diskussionen, einem digitalen Rundweg[4], Graffiti und vielem mehr auf das Thema aufmerksam gemacht.[5]

 

Es wurden mehrere Bücher zu diesem Thema veröffentlicht, die sich teilweise auch sehr kritisch mit dem Generalstreik auseinandersetzten. Ein Beispiel hierfür ist die Monografie „Mössingen und der Generalstreik am 31. Januar 1933. Seine Ursachen, seine Folgen und Auswirkungen bis heute“ von Paul Gucker (1986). Er war selbst Zeitzeuge und jahrelang als Journalist für den Reutlinger Generalanzeiger tätig. Darüber hinaus engagiert er sich immer wieder in verschiedenen Vereinen in Mössingen.[6] In seinem Buch beleuchtet er den Generalstreik aus einer anderen Sicht.[7] Die Mössinger Bürger*innen hatten zu dieser Zeit gegen viele bestehende Gesetze verstoßen und wurden vergleichsweise nicht übermäßig streng verurteilt. Zusätzlich geht er auch auf die Absichten der KPD- Anhänger*innen ein. Diese strebten vermutlich eine Staatsform nach sowjetischem Vorbild an und hatten damit ebenfalls kein wirkliches Interesse an einer Demokratie. Auch diese Sicht auf die Ereignisse sollte ihren Platz in der Erinnerung behalten.

 

Es ist beeindruckend, mit welcher Vielfalt Mössingen an den Generalstreik erinnert. Heute ist Mössingen eine Kreisstadt und immer noch stolz auf den Mut und die Courage der damaligen Arbeiter*innen. Hierbei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass frühere Ereignisse oft romantisiert und heroisiert werden. Denn wie Paul Gucker in seiner Monografie bereits diskutiert, sollte man auch die Intention und die Ziele der streikenden Bürger*innen berücksichtigen. Es steht außer Frage, dass es wichtig und mutig war, die Courage zu haben, gegen den Nationalsozialismus aufzustehen, doch man sollte auch die Ziele und Absichten der Arbeiter*innen kritisch hinterfragen. Es spricht für eine multiperspektive Erinnerungskultur, dass es mittlerweile viel Literatur gibt, die genau diese kritische Sicht vertiefen und ausleuchten. Dies ist ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit und insbesondere der Zeit des Nationalsozialismus.

 

Es ist auch ein Beispiel dafür, dass sich unsere Erinnerung mit der Zeit verändert. Sie wird geprägt durch die politische Situation, die geltenden Gesetze und Normen einer Gesellschaft und durch das eigene Empfinden.

 

Die Langgass Sporthalle – der Ausgangspunkt des Streikes. Bild: Maja Meister.
Die Langgass Sporthalle – der Ausgangspunkt des Streikes. Bild: Maja Meister.

 

 

Da Zeitzeug*innen immer weniger werden, gewinnen die Orte der Erinnerung an immer größer Bedeutung. Eine Sporthalle, in der die Entscheidungen getroffen wurden, eine Fabrik, die gestürmt wurde, und eine Straße, auf der Bürger*innen gewaltsam verhaftet wurden, verleiht diesem Kapitel der Geschichte Mössingens ein reales Gesicht und einen greifbaren Zugang.

 

Diese Orte der Erinnerung, die ihre Geschichte immer noch in sich tragen, haben einen großen Wert für unsere Gesellschaft, den wir nutzen sollten. Wie sich ein Dorf an seine Geschichte erinnert, kann von großer Bedeutung sein. Ein Teil der Erinnerung ist die kritische Hinterfragung der Intentionen und die Beleuchtung der Situation von allen Seiten. Mössingen ist sicher ein gutes Vorbild für eine angemessene Erinnerungskultur, an dem sich andere Dörfer und Städte durchaus orientieren können.

 

Ein Beitrag von Maja Meister 


Weiterführende Informationen:

Neben dem virtuellen Rundgang (https://moessinger-generalstreik.de/virtueller-rundgang/) kann man die Ausstellung ‚Vor 90 Jahren – Generalstreik in Mössingen‘ im Museum Kulturscheune mit Kulturcafé, Brunnenstr. 3/1 in Mössingen, bis zum 17. Dezember 2023 besichtigen. Öffnungszeiten: Mi. 14 – 22 Uhr, So. 14 – 18 Uhr. Eintritt frei, vgl. auch Homepage der Stadt Mössingen, URL: https://www.moessingen.de/de/Stadt-Buerger/Aktuelles/Veranstaltungskalender/Veranstaltung?view=publish&item=eventDate&id=14257. (28.04.2023).

 

Literaturverzeichnis:

-        Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015.

-        Website über Paul Gucker, URL: https://www.gucker.de/hier-das-buch-2012.html (20.03.2023).

-        Virtueller Rundgang, URL: https://moessinger-generalstreik.de/virtueller-rundgang/ (20.03.2023).

 

 

Fußnoten:

[1] Vgl. Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015, S. 3.

[2] Vgl. Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015, S. 57.

[3] Vgl. Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015, S. 57.

[4] Virtueller Rundgang, URL: https://moessinger-generalstreik.de/virtueller-rundgang/ (20.03.2023).

[5] Vgl. Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015, S. 53–57.

[6] Vgl. Website über Paul Gucker, URL: https://www.gucker.de/hier-das-buch-2012.html (20.03.2023).

[7] Vgl. Frick, Lothar (Hrsg.): „Heraus zum Massenstreik“ Der Mössinger Generalstreik vom 31. Januar 1933 – linker Widerstand in der schwäbischen Provinz, Stuttgart 2015, S.57.


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