Im Jahr 1978 erschien in der BRD das „Politische Lexikon Schwarzafrika“, das die „erste politische Aktivität in Togo“ auf das Jahr 1941 datiert.[1] Dieser Eintrag ignoriert, dass es bereits zwischen 1902 und 1914 unter dem deutschen Kolonialregime, welches von 1884-1914 andauerte, bevor die Kolonie im Zuge des Ersten Weltkrieges unter die französische Kolonialmacht geriet[2], zu einer politischen Bewegung in Togo kam, die sich vor allem in Petitionen manifestierte. Doch wie sah diese Bewegung aus? Was genau wurde in den Petitionen gefordert und wieso ist es so wichtig, diese nicht zu ignorieren?
Die Bedeutsamkeit antikolonialer Petitionen
Postkoloniale Ansätze kritisieren, dass die Kolonisierten in zahlreichen Darstellungen oftmals auf eine „reagierende Rolle“[3] reduziert werden und die Beziehung zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten als eindimensional und zugleich sehr gegensätzlich charakterisiert wird.[4] Wo auch immer solche Darstellungen noch Verwendung finden oder im Zentrum historischer Analysen stehen, werden koloniale Denkweisen und Dichotomien reproduziert. Es ist an der Zeit, dass mehr Arbeiten entstehen, in denen die agency, also die Fähigkeit der Akteur*innen in einem bestimmten Umfeld zu handeln, betont wird. In diesem Beispiel sind diese Akteur*innen die Kolonisierten. Ein Blick in die antikoloniale Petitionsbewegung in Togo eignet sich besonders gut, um mit diesen kolonialen Denkmustern zu brechen. Es wird schnell deutlich, dass die Kolonisierten grundlegende koloniale Strukturen und Widersprüche erkennen, durchschauen und hinterfragen. Es ist schlichtweg falsch und kolonialen Denkweisen geschuldet, die Kolonisierten in Togo auf die oben genannte reagierende Rolle zu reduzieren, denn: Sie verfügten über eine eigene Handlungssouveränität und machten sich dies in den Petitionen auf vielschichtige Art und Weise zunutze.
Die Facetten der Kolonialismuskritik in den Petitionen
Kritik ist nicht gleich Kritik, sondern zeigt sich in verschiedenen Facetten – dies wird bereits nach einem kurzen Blick in die Petitionen aus Togo deutlich. Eine nähere Betrachtung zeigt, dass sich die formulierte Kritik am Kolonialismus grob in drei Stufen einteilen lässt. Auf Stufe eins wird partiell Kritik geübt, indem das Handeln einzelner Kolonialbeamter kritisiert wird. Auf Stufe zwei wird die Kritik am kolonialen System bereits fundamentaler, da die Akteur*innen die kolonialen Missstände argumentativ aufarbeiten und darlegen. Zu einer strukturellen Infragestellung des gesamten kolonialen Systems kommt es schließlich auf Stufe drei.
Stufe eins: personenbezogene Reformbestrebungen
Dass bereits die demütig vorgebrachten Bitten auf vielfältige Weisen gelesen werden können, zeigt das folgende Beispiel. In der Petition der „Atakpame-Leute“ an das Kolonialgouvernement in Lomé unter dem Gouverneur Waldemar Horn vom 16. März 1902 bitten die Schreibenden darum, Döring, den stellvertretenden Gouverneur, als Kolonialbeamten zu behalten. Sie wünschen sich, „dass Herr v. Doering möchte unser Beschützer sein für immer“, denn er sei „ein guter Mann und geschuftlich an seiner Pflicht“, handle „gerecht“ und könne außerdem „eine gute Gessitung herbei führen.“[5]
Ganz im Sinne der demütigen Bitte stellen sich die Schreibenden dadurch auf die Seite der Kolonialbeamten und machen sogar von denjenigen Begriffen Gebrauch, die von diesen verwendet werden, um das koloniale System und die Ungleichbehandlung zu rechtfertigen. Der Begriff des Schutzes erzeugt ein asymmetrisches Verhältnis, da die ‚schwächere‘ Gruppe Schutz benötigt, während die ‚stärkere‘ Gruppe diese beschützt. Auch der Begriff der „guten Gessitung“ entspringt der rassistischen Sicht auf die Kolonisierten, dass diese über keinerlei Moral oder Verstand verfügten und ihnen zivilisierte Umgangsformen daher von den Kolonisierenden beigebracht werden müssten.[6] Jedoch wäre es völlig falsch anzunehmen, dass die Kolonisierten das gesamte koloniale System bejahten und die rassistischen Denkweisen für richtig hielten, nur weil sie sich in dieser Petition derart äußerten. Auch wenn nicht klar gesagt werden kann, was wie gemeint war, können zumindest Vermutungen über mögliche, den Äußerungen zugrundeliegende Strategien aufgestellt werden. Eine Möglichkeit ist, dass die Kolonisierten von der Art und Weise, eine Petition möglichst demütig vorzubringen, wussten. Oder sie haben es sich zumindest selbst als Strategie überlegt, den Kolonisierenden zunächst zu schmeicheln und das System zu bejahen – in der Hoffnung, dadurch kleinere Bitten erfüllt zu bekommen.
Eine weitere Möglichkeit ist, dass die Kolonisierten mit dem System der Kolonialherrschaft durchaus die Hoffnung auf positive Effekte verbanden, beispielsweise wenn die Schreibenden der Petition formulieren, dass Dörings Taten „die Leute in Hinterland zur Einigkeit bringen“[7] werden. Indem ihnen die Hoffnung zugestanden wird, dass durch das koloniale System eigene innenpolitische Probleme gelöst werden könnten, werden sie noch lange nicht abgestuft. Aus der Retrospektive betrachtet ist es immer leicht, eine solche Hoffnung als gefährlich einzuschätzen. Es muss jedoch bedacht werden, dass es für die Kolonisierten im Jahre 1902 definitiv noch zu früh war, das koloniale System zu durchschauen. Der deutsche Historiker Peter Sebald verfasste das bekannte und lesenswerte Standardwerk über die Deutsche Kolonie Togo, in welchem er auf der Basis amtlicher Quellen die dortigen Verhältnisse aufarbeitet und somit Stereotype und Dichotomien aufbricht. Wie er es formuliert, mussten die Kolonisierten „erst einmal die neuen gesellschaftspolitischen Bedingungen direkter imperialistischer Kolonialherrschaft kennen“[8], um dann einschätzen zu können, welche Maßnahmen auf der Willkür einzelner Beamten beruhten und welche nicht. So konnte auch eruiert werden, inwiefern diese Maßnahmen überhaupt längerfristige Gültigkeit hatten und wie die Situation in anderen Städten und Kolonien aussah.[9] Ihnen in dieser Ungewissheit eine gewisse Hoffnung anzuerkennen, spricht ihnen daher keineswegs ihre Handlungssouveränität oder ihren Subjektstatus als Akteure ab, sondern berücksichtigt ihren Handlungsspielraum.
Stufe zwei: die Aufarbeitung kolonialer Missstände
Ein Beispiel für eine besonders präzise Formulierung der Missstände innerhalb der kolonialen Rechtspraxis findet sich in der antikolonialistisch und nationalistisch eingestellten Petition der Gruppe um den prominenten togoischen Bürger, Händler und Kaufmann Octaviano Olympio, die am 12. Oktober 1913 direkt an den deutschen Staatssekretär Solf, der zu dieser Zeit Togo besuchte, übergeben wurde. Unter „Punkt 1. Bessere Organisation des Rechtswesens“[10] beklagen die Petenten die Ungerechtigkeit in den Prozessen zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten, da letztere stets höhere und unangemessene Strafen erhielten. Gewaltsame Ausschreitungen von Seiten der Kolonialbeamten könnten auch schon nach kleineren Auseinandersetzungen wie dem Nichtgrüßen eines solchen geschehen, wobei die Kolonisierten keine Chance hätten, sich selbst zu verteidigen, ohne eine noch größere Strafe zu erhalten.[11] Interessant sind außerdem Punkt 4, in dem die „Zulassung einer Vertretung der Eingeborenen in die Gouvernementsratssitzungen“[12] gefordert wird, und Punkt 5, der Bitte nach der baldigen „Einführung eines allgemeinen Landesgesetzbuches.“[13] In Berlin hatte niemand Interesse an einem allgemeinen Rechtskodex. So ungünstig er letztendlich für die Kolonisierten auch ausfallen mochte, würde damit letztendlich etwas vorliegen, auf das sie sich berufen könnten.[14] Das Entscheiden nach Ermessen in den einzelnen Rechtssituationen würde so überprüf- und anfechtbar werden. Der in den Kolonien ‚rechtslose Raum‘ eröffnete hingegen den Spielraum für gewalttätige Ausschreitungen und die Willkür einzelner Beamter. Er ermöglichte auch den willkürlichen Ablauf von Gerichtsverhandlungen, in dem ein Beamter die Rolle von Ermittler, Ankläger und Richter vereinte und nicht einmal eine Anklageschrift erforderlich war. Zudem durfte die indigene Bevölkerung nur von Weißen verteidigt werden, aber auch nur dann, wenn die Todesstrafe drohte.[15] Die Willkür stand auf dem Programm und die Kolonisierten waren dieser Willkür, die keinen rechtlichen Grenzen unterlag, ausgesetzt.
Ähnlich verhält es sich mit der Bitte um „Zulassung einer Vertretung der Eingeborenen in die Gouvernementsratssitzungen“ in Punkt 4. Auch daran dürfte in Berlin kein Interesse bestanden haben. Schon dem Gouvernement oder dem Außenministerium war es quasi unmöglich, die koloniale Rechtspraxis zu kontrollieren – und nur deshalb konnte sie funktionieren, obwohl sie jeglichen Prinzipen eines Rechtsstaats widersprach.[16] Eine „Vertretung der Eingeborenen“ würde ebenfalls Kontrolle beziehungsweise Aufdeckung der Willkür und vor allem eine politische Partizipation der indigenen Bevölkerung bedeuten, was dem in den Kolonien vorherrschenden asymmetrischen Machtverhältnis grundsätzlich widerspräche. Indem die Schreibenden dies dennoch einforderten, bewiesen sie gleichzeitig ihren Subjektstatus als Akteure und ihr Recht an politischer Partizipation.
Ein Beitrag von Viola Oßwald
Den Kolonisierten gelang es, sogar das gesamte koloniale System auf direkte und teilweise sogar ironische Art und Weise in Frage zu stellen und offenkundig abzulehnen – lesen Sie hier Teil 2 dieses Beitrags!
Fußnoten
[1] Vgl. Peter Sebald: Die Einflüsse bürgerlicher Klasseninteressen auf die Anfänge der antikolonialen Bewegung in Togo. In: G.F. Kim et al. (Hg.): Geistige Profile Asiens und Afrikas. Aktuelle Fragen der ideologischen Auseinandersetzung in der nationalen Befreiungsbewegung. Berlin 1982, S.359–378, hier S. 361.
[2] Peter Sebald: Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen. Berlin 1988, S. 150f.
[3] Bernd-Stefan Grewe/Thomas Lange: Kolonialismus. Stuttgart 2015, S. 101.
[4] Vgl. ebd., S. 100f.
[5] Petition der Atakpame-Leute an Kolonialgouvernement in Lomé (16. März 1902) (Gouverneur Waldemar Horn), ANT [5] FA2/100: 1 [Rechtschreibfehler im Original].
[6] Vgl. Grewe/Lange: Kolonialismus, S. 60.
[7] Petition der Atakpame-Leute an Kolonialgouvernement in Lomé (16. März 1902) (Gouverneur Waldemar Horn), ANT [7] FA2/100: 1.
[8] Sebald: Togo 1884–1914, S. 527.
[9] Ebd.
[10] Petition von Octaviano Olympio u.a. an den Staatssekretär des Reichs-Kolonialamts Dr. Solf (12. Oktober 1913), ZStA, RKA, Nr. 4308, Bl. 149–152.
[11] Vgl. ebd.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Vgl. Rüdiger Voigt: Kolonialisierung des Rechts? Zur Kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung. In: Ders./Peter Sack (Hgg.): Kolonialisierung des Rechts. S. 15–39, hier S. 24.
[15] Vgl. Thomas Kopp: Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts, in: Rüdiger Voigt/Peter Sack: Kolonialisierung des Rechts. Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung. Baden-Baden 2001, S. 71-91, hier S. 80.
[16] Vgl. Rebekka Habermas: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. Frankfurt a. M. 2016, S. 99.
Quellenverzeichnis
o Petition der Atakpame-Leute an Kolonialgouvernement in Lomé (16. März 1902) (Gouverneur Waldemar Horn), ANT (Archives Nationales du Togo, Lomé) FA2/100: 1.
o Petition von Octaviano Olympio u.a. an den Staatssekretär des Reichs-Kolonialamts Dr. Solf (12. Oktober 1913), ZStA, RKA, Nr. 4308, Bl. 149–152.
Literaturverzeichnis
o Grewe, Bernd-Stefan/ Lange, Thomas: Kolonialismus. Stuttgart 2015.
o Habermas, Rebekka: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. Frankfurt a. M. 2016.
o Kopp, Thomas: Theorie und Praxis des deutschen Kolonialstrafrechts. In: Rüdiger Voigt/Peter Sack: Kolonialisierung des Rechts. Zur kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung. Baden-Baden 2001, S. 71–91.
o Sebald, Peter: Togo 1884–1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen. Berlin 1988.
o Voigt, Rüdiger: Kolonialisierung des Rechts? Zur Kolonialen Rechts- und Verwaltungsordnung. In: Ders./Peter Sack (Hgg.): Kolonialisierung des Rechts, S. 15–39.
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