Im ersten Teil dieses Beitrags wurde deutlich, wie es den Kolonisierten in Togo durch das Verfassen antikolonialer Petitionen gelang, grundlegende koloniale Strukturen zu durchschauen und die Missstände innerhalb dieser aufzudecken. Doch dabei blieb es nicht – die Inhalte der Petitionen gehen bis zur gänzlichen und deutlichen Infragestellung des kolonialen Systems an sich, was in der Forschung lange Zeit ignoriert wurde. Doch wie sieht dies aus? Wie gelingt es den Kolonisierten in den Petitionen, dem kolonialen System seine Rechtfertigung zu entziehen?
Stufe drei: die strukturelle Infragestellung des kolonialen Systems
In der Petition von mehreren togoischen Autoritäten um Jackson Latekpavuvu Lawson an den deutschen Reichstag in Berlin vom 1. Mai 1914 werden die Infragestellungen des kolonialen Systems expliziter und reichen bis zu dessen Verneinung und Ablehnung. Gründe dafür sind Fehlinformationen und ein fehlendes Einhalten von Versprechen. „Die erzählten uns ganz verkehrt“[1] ist eine Aussage, die alle Chiefs mehrmals betonen, um aufzuzeigen, dass die Unehrlichkeit der Kolonialbeamten erkannt wurde.
Was diese Petition jedoch von den anderen unterscheidet, ist, dass die Schreibenden bestimmte Missstände nicht nur erkennen, sondern gezielt hinterfragen. Sie suchen nach dem Sinn und der Begründung dahinter und bringen dies durch gezielt gestellte Fragen auf den Punkt. Darunter finden sich sowohl Fragen, die auf die Aufdeckung und Hinterfragung konkreter Missstände zielen, als auch solche, die das koloniale System und die asymmetrischen Machtverhältnisse an sich in Frage stellen. Ebenso hinterfragen sie gezielt die fragwürdige Protokollführung bei Gerichtsverhandlungen und die Zwangsarbeit:
Steht das auch in das Gerichtspapier? […] Wo bleibt das Protokol von der gefangener Akagbo aus Sohole Togoland?“ […] In Deutschlang bezahlt man nicht für die Wegearbeiter??? In Deutschland kriegen die Wegebauer und Lagunarbeiter kein Lohn? Oder bekommen die Wegebauer anstatt Lohn 25 Hiebe Strafe?[2]
Schließlich fragen sie noch nach den Straftaten der Kolonialbeamten und der fehlenden Konsequenzen – hier am Beispiel des letzten Gouverneurs Adolf Friedrich zu Mecklenburg: „Wenn man 10–12 Jahre Mädchen verbraucht, soll man nicht in Gefängnis kommen? Warum hatte Adolph Friedrich solche getan?“[3] Und schließlich noch allgemeiner: „Warum ist kein Gefängnishaus in Togo für Europäer? In Deutschland sind alle die Einwohner echt? Oder kein Gefängnishaus in Deutschland?“[4] Diese Missstände anhand von Fragen zu formulieren hat eine noch größere Wirkung, als sie argumentativ auszuformulieren, da sie so im wörtlichen Sinne direkt durchleuchtet werden.
Noch deutlicher und wirkungsvoller wird diese grundsätzliche Infragestellung durch jene Fragen, die – losgelöst von konkreten Missständen – grundsätzliche Strukturen des kolonialen Systems infrage stellen. Auf die Drohung hin, dass sie verjagt werden, sollten sie sich nicht gehorsam verhalten, fragen sie: „Was haben wir getan?“[5] Ein weiterer Abschnitt, der auf ähnliche Art und Weise auf die ganz grundsätzliche Hinterfragung der Machtverhältnisse zielt, ist der folgende: „Und warum soll Togo so unrecht behandeln? Wir entschuldigen für dieses folgende Wort: Wir haben nie gutes von irgend Deutsches Kolonie erfahren. Aber warum denn?“[6] Nach der Ausführung einiger Beispiele für ungerechte Gerichtsurteile fragen sie weiter: „Niemals haben wir recht. Aber warum denn?“[7] Und schließlich hinterfragen sie, was die Kolonialbeamten überhaupt unter „Kultiviertheit“ verstehen: „Wir sind noch nicht kultiviert sprach der Dr Solf: Aber sind unsere Gedanke oder Ahnung auch noch nicht kultiviert?“[8]
All diese Fragen heben den Diskurs auf eine moralische Ebene und zeigen auf, dass die vorherrschenden, asymmetrischen Machtverhältnisse und das koloniale System an sich kaum einer Begründung standhalten können. Sie wurden ohne eine moralisch nachvollziehbare Begründung durchgesetzt. Das „Warum“ in den Fragen verdeutlicht das Unverständnis von Seiten der Schreibenden für die Gewalt. Sie sind an einem Punkt, an dem die bereits zuvor formulierte Müdigkeit und ein Frust deutlich zu spüren sind und die koloniale Realität ihren Horizont für das Nachvollziehbare längst überschritten hat. Und obwohl dies auf eine deutliche Verschlimmerung der Ereignisse in Togo hindeutet, halten sie weiterhin ihr Selbstbild aufrecht, indem sie in der letzten zitierten Frage hervorheben, dass es auch andere Perspektiven auf „Kultiviertheit“ gibt als die europäische. Somit nehmen sie gezielt Neudefinitionen von Konzepten vor, die das gesamte koloniale System von europäischer Seite aus rechtfertigen – und entziehen ihm diese Rechtfertigung dadurch.
Was bleibt?
Durch die Analyse der Petitionen und der Handlungssouveränität der indigenen Bevölkerung zeigt sich, dass koloniale Beziehungen wechselseitig sind. Auch wenn diese „Betonung der Verwobenheit […] zunächst noch nichts über die Modalitäten der Interaktion aus[sagt]“[9], die weiterhin nicht auf Gleichberechtigung basiert, wird so ein wichtiger Grundstein gelegt, um den kolonialen Dichotomien entgegenzuwirken. Denn: Es ist schlichtweg falsch und kolonialen Denkweisen geschuldet, die Kolonisierten in Togo auf die eingangs genannte reagierende Rolle zu reduzieren. Sie verfügen über eine Handlungssouveränität und einen Subjektstatus als Akteure und machen sich dies in den Petitionen auf vielschichtige Art und Weise zunutze. Je länger eine Beschäftigung mit kolonialen Themen andauert, desto intensiver wird die Erkenntnis, wie sehr die eigenen Denkweisen noch immer von kolonialen Denkstrukturen und Stereotypen geprägt sind. Daher bedarf es immer der Offenheit zuzulassen, „dass die subalterne Position unsere eigenen totalisierenden Vorstellungen in Frage stellt.“[10] Nur so kann es gelingen, sich der (nötigen!) Aufgabe zu stellen, „einen neuen Weg der Begegnung mit dem anderen Menschen, dem Fremden zu suchen.“[11]
Ein Beitrag von Viola Oßwald
Den Kolonisierten gelang es, sogar das gesamte koloniale System auf direkte und teilweise sogar ironische Art und Weise in Frage zu stellen und offenkundig abzulehnen – lesen Sie Teil 1 dieses Beitrags!
Fußnoten:
[1] Ebd.
[2] Ebd [Rechtschreibfehler im Original].
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Sebastian Conrad/Shalini Randeria: Einleitung: Geteilte Geschichten, in: Dies. (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erw. Aufl. Frankfurt/New York 2013, S. 40.
[10] Dipesh Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt/New York 2010, S. 109f.
[11] Theo Sundermeier/Werner Ustorf (Hgg.): Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik. Gütersloh 1991, S. 9 (Einleitung).
Quellenverzeichnis:
o Petition von Jackson Latekpavuvu Lawson u.a. an Reichstag, Berlin (1. Mai 1914), BArch R 1001/4235: 154–163.
Literaturverzeichnis:
o Chakrabarty, Dipesh: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung. Frankfurt/New York 2010.
o Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini: Einleitung: Geteilte Geschichten, in: Dies. (Hgg.): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erw. Aufl. Frankfurt/New York 2013.
o Habermas, Rebekka: Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft. Frankfurt a. M. 2016.
o Sundermeier, Theo/Ustorf, Werner (Hgg.): Die Begegnung mit dem Anderen. Plädoyers für eine interkulturelle Hermeneutik. Gütersloh 1991.
Bilder:
*https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_137-003030,_Togo,_Baumwoll-Transport.jpg (12.06.2023).
**https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adolf_Friedrich_zu_Mecklenburg_1905_Heuschkel.jpg (12.06.2023).
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