Ein belangvolles Thema in der Geschichtswissenschaft ist die Erinnerung an Menschen, die Großes geleistet haben und doch Schattenseiten in ihrer Biografie aufweisen, und der Umgang mit ihnen. Immer wieder wird darüber debattiert, ob Straßen oder Gebäude umbenannt werden sollten und wie man an solche Persönlichkeiten erinnert. Diese Debatten betreffen Personen aus verschiedensten Bereichen in Kultur und Politik, beispielsweise den Komponisten Richard Wagner, den Theologen Martin Luther oder den Politiker Mattias Erzberger. Mit Letzterem hat sich auch die Stadt Münsingen auf der Schwäbischen Alb immer wieder auseinandergesetzt. Anlässlich der Umbenennung des Münsinger Rathausplatzes in ‚Matthias-Erzberger-Platz‘ im Herbst 2021 flammte die Debatte zu seinem hundertjährigen Todestag wieder auf: Wie soll eine Stadt an den Politiker erinnern, der vom begeisterten Kriegsunterstützer und Antisemiten zum „gehassten Versöhner“[1] der Weimarer Republik und einem der ersten Todesopfer der aufsteigenden Rechten wurde?
Die Verbindung der Stadt Münsingen zum 1921 von zwei rechtsradikalen Freikorpsmitgliedern ermordeten Zentrumspolitiker Erzberger ergibt sich aus seiner Herkunft. Im Münsinger Teilort Buttenhausen wurde er 1875 als ältester Sohn von Joseph und Katharina Erzberger geboren und verbrachte seine Kindheit auf der Schwäbischen Alb. Während im größtenteils evangelischen Buttenhausen auch eine große jüdische Gemeinde existierte, wurde Matthias Erzberger von seinen Eltern streng katholisch erzogen. Für kurze Zeit war Erzberger Volksschullehrer in Biberach, bevor er im Journalismus tätig wurde und schließlich 1903 als Reichstagsabgeordneter nach Berlin kam.[2] Bekannt ist er heute vor allem für seine Kritik an der Kolonialpolitik, seine aktive Rolle beim Zustandekommen des Waffenstillstandsabkommen von Compiègne und seine Arbeit als Reichsfinanzminister in der frühen Weimarer Republik.
Seit über 50 Jahren wird immer wieder darüber diskutiert, ob und wie die Stadt Münsingen an Matthias Erzberger erinnern soll. Ein wiederkehrendes Thema ist dabei der Name des Gymnasiums, welches bis heute einfach ‚Gymnasium Münsingen‘ heißt. 1970 wurde der Name Erzberger zum ersten Mal von Lehrer Heinrich Linder in die Diskussion über den Schulnamen eingebracht.[3] Damals endete die Debatte über potenzielle Namenspaten für die Schule unentschieden zwischen Matthias Erzberger und dem Widerstandstheologen Theophil Wurm; im Anschluss kam die Diskussion für gut zehn Jahre zum Erliegen. Um 1983 wurde Erzberger dann erneut als Namenspate vorgeschlagen. Die Idee eines ‚Matthias-Erzberger-Gymnasiums‘ wurde besonders vom damaligen Bürgermeister Rolf Keller und dem Münsinger Geschichtsverein begrüßt. Nach einigem Hin und Her lehnte die Gesamtlehrerkonferenz den Namen 1991 endgültig mit einer Mehrheit ab. Begründet wurde die Entscheidung unter anderem mit der Tatsache, die Schule brauche als einziges Gymnasium der Stadt kein Unterscheidungsmerkmal und damit keinen Namen.[4] Außerdem, so der damalige Schulleiter Dr. Walter Schiele, fehle Erzberger die nötige Ausstrahlungskraft und Identifikationsmöglichkeit[5] und er sehe ihn nicht als Leitfigur für die Schule.[6] Auch sei im Hinblick auf die vielen Münsinger Teilorte „die Beschränkung auf den übergeordneten Kernstadt-Namen integrations- und identifikationsfördernd“.[7] Tatsächlich gibt es bereits an anderen Orten Schulen, die den Namen Erzbergers angenommen haben, so zum Beispiel eine Berufsschule in Biberach, an der Erzberger selbst lehrte und die Grund- und Hauptschule in Bad Petersbach-Bad Griesbach, wo er ermordet wurde.[8] Doch auch nach Schiele wiesen die nachfolgenden Schulleitungen des Münsinger Gymnasiums den Vorschlag zur Umbenennung immer wieder ab, unter anderem mit der Begründung, man wolle und könne sich nicht auf einen Namen festlegen, solange es nicht von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen ausdrücklich gewünscht ist.[9] Heute befindet sich die Schulgemeinschaft laut Schulleiterin Kathrin Lehbrink in einem Schulentwicklungsprozess, in dem noch nicht an eine Namensgebung zu denken sei.[10]
Einige bedauern das. So zum Beispiel der aktuelle Bürgermeister Mike Münzing, unter dessen Leitung sich der Münsinger Gemeinderat ausführlich mit der Frage beschäftigt hat, wie man sich an Matthias Erzberger erinnern soll. Münzing sieht in Erzberger eine zeitlose Leitfigur – ein Mensch aus einfachen Verhältnissen, der „aus seinem Leben etwas gemacht hat“.[11] Auch für Paul Fink vom Geschichtsverein Münsingen ist Erzberger eine Persönlichkeit, von der man noch lernen kann. Er begründet dies damit, dass Erzberger offensichtlich aus seinen Fehlern gelernt und sich weiterentwickelt habe und dies auch heute noch erstrebenswerte Eigenschaften seien.[12]
In Erzbergers Geburtshaus in Buttenhausen wurde 2004 eine Erinnerungsstätte eingerichtet. Außerdem gibt es eine Matthias-Erzberger-Straße in Gundelfingen, einem weiteren sich im Lautertal befindenden Teilort Münsingens und erst im Juli letzten Jahres wurde ein Besprechungsraum des EU-Parlaments in Brüssel nach ihm benannt.[13] In Münsingen selbst wurde 2021 der Rathausplatz zu Matthias-Erzberger-Platz umbenannt und jüngst, am 13. März 2023, eine lebensgroße Statue Erzbergers, die auf einer Bank vor dem Münsinger Rathaus sitzt, eingeweiht. Zusätzlich wurde noch eine Informationstafel errichtet.[14] So tritt der Rathausplatz in Münsingen nun mit ein in die Reihe des Gedenkens an Erzberger und lädt dazu ein, sich mit Erzberger und seiner Geschichte zu beschäftigen.
Neben der Frage wie man an eine Person erinnern will, ist vor allem auch die Frage interessant an was man erinnert. Wie bereits erwähnt, war Erzberger ein Mann, in dessen Biografie dunkle Seiten zu finden sind, zum Beispiel die Tatsache, dass er vor dem Ersten Weltkrieg begeisterter Kriegsunterstützer war und sich auch dem katholischen Antisemitismus anschloss. Kann man also einen Mann ehren, dessen Taten in unseren Augen sowohl bewundernswert als auch verwerflich waren? Oder wirft der Versuch, Erzberger als Mann seiner Zeit zu sehen, ein anderes Licht auf die Dinge? Betrachtet man Erzbergers politischen Werdegang, wird deutlich, dass er sich gerne populären Strömungen angepasst und diese als politisches Mittel genutzt hat, um „seine Anhänger an sich zu binden und dazuzugehören“.[15] Dies lässt sich sowohl bei der anfänglichen Kriegsunterstützung als auch bei Erzbergers antisemitischen Äußerungen und Handlungen beobachten.
Diese Themen sind berechtigterweise Gegenstand der Debatte. Gerade wenn man an solche Persönlichkeiten erinnern will, ist es wichtig, über sie aufzuklären, ihre Errungenschaften sowie Verfehlungen darzulegen und sie somit der Gesellschaft zugänglich zu machen.
Ein Beitrag von Emelie Class
Literaturverzeichnis:
Bloching, Maria. Schlüsselfigur der Demokratie, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen 30.07.2022.
Bührer-Zöfel, Ulrike. Auf ein Selfie mit Erzberger, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen, 14.03.2023.
Dürr, Benjamin. Erzberger – Der gehasste Versöhner: Biografie eines Weimarer Politikers, Berlin 2021.
GEA. Ein Lehrer in Demokratie, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen 17.04.2008.
GEA. Erinnerung an einen verdienstvollen Mann, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen 05.03.2009.
Schrade, Marion. Debatte um das „Erzberger-Gymnasium“ in Münsingen, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen 17.05.2021.
Anm.: GEA steht für Reutlinger Generalanzeiger; Artikel ohne Autor.
Fußnoten:
[1] Dürr, Benjamin. Erzberger – Der gehasste Versöhner: Biografie eines Weimarer Politikers, Berlin 2021.
[2] Vgl. Dürr, 2021, S. 15ff.
[3] Vgl. Schrade, Marion. Debatte um „Erzberger-Gymnasium“ in Münsingen, in: Reutlinger Generalanzeiger, Reutlingen 17.05.2021.
[4] Vgl. Schrade, 17.05.2021.
[5] Vgl. GEA. Ein Lehrer in Demokratie, in: Reutlinger Generalanzeiger, 17.04.2008.
(GEA steht hier für Reutlinger Generalanzeiger und wird bei allen Artikeln ohne Autor*in verwendet.)
[6] Vgl. Schrade, 17.05.2021.
[7] Schrade, 17.05.2021.
[8] Vgl. GEA. Erinnerung an einen verdienstvollen Mann, in: Reutlinger Generalanzeiger, 05.03.2009.
[9] Vgl. GEA. 17.04.2008.
[10] Vgl. Schrade, 17.05.2021.
[11] Schrade, 17.05.2021.
[12] Vgl. GEA. 17.04.2008.
[13] Vgl. Bloching, Maria. Schlüsselfigur der Demokratie, in: Reutlinger Generalanzeiger, 30.07.2022.
[14] Vgl. Bührer-Zöfel. 13.03.2023.
[15] Dürr, 2021, S. 75.
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