Die Dauerausstellung Wahre Schätze. Antike. Kelten. Kunstkammer des Landesmuseums Württemberg in Stuttgart zeigt Objekte aus der Kunstkammer der Württembergischen Herzöge. Die Erwartungen werden nicht enttäuscht: Schätze und Kunst aus Gold, Silber, Perlmutt und Edelstein gibt es in großer Zahl. Zwischen den edlen Metallen und anderen kostbaren Materialien ist aber auch ein hölzernes Gerät aus dem 17. Jahrhundert zu sehen – ein sogenannter Jakobsstab. Was macht ein solches Objekt in einer fürstlichen Wunderkammer?
Sammeln und Zeigen
In einer warm beleuchteten, blauen Vitrine hängt der Jakobsstab horizontal im oberen Teil – um ihn herum Sonnenuhren, Teleskope, ein kleiner Globus, Zirkel und andere Messgeräte. Es ist ein 82,5 cm langer, 1,6 cm breiter, vierkantiger dunkler Stab mit drei hellen, unterschiedlich großen Querstäben (38,9 cm der größte, 16,3 cm der mittlere und 8,8 cm der kleinste), die der Größe nach sortiert an ihm befestigt sind. Die Umgebung lässt auf ein wissenschaftliches Gerät schließen. Die Bezeichnung beschreibt seine Erscheinung und spielt auf den Pilgerstab des Heiligen Jakob (baculus jacobi) an. Der Ausstellungskontext macht deutlich: Dieser Jakobsstab ist und war Teil der Württembergischen Kunstkammer, einer Sammlung und Ausstellung von Schätzen – oder Objekten, die als solche galten. In einem zeitgenössischen Inventar lässt sich erkennen, dass er auch dort in der Umgebung ähnlicher wissenschaftlicher Geräte aufbewahrt wurde.[1]
Ein Geschenk
Jakobsstäbe sind in Kunstkammern keine Seltenheit – etwa in Dresden und München gibt es golden oder silbern veredelte Exemplare.[2] Der Stuttgarter Jakobsstab ist zwar nicht aus seltenem Metall, diente wohl dennoch als Geschenk. 1701 gelangte dieser Jakobsstab durch die Schenkung eines Jakob Langhe aus Schorndorf, der sich für die Aufnahme in den Landesdienst bei seinem Herzog Eberhard Ludwig bedankte, an den Württembergischen Hof.[3] Neben dem Jakobsstab verschenkte Langhe einer zeitgenössischen Notiz über Erwerbungen für die Kunstkammer zufolge auch zwei Teile von aus China stammendem Geschirr. [4] In einer Rechnung von 1700/1701 taucht sein Name in Verbindung mit zwei Straußeneiern auf, die er für die Kunstkammer beschafft habe.[5] Jakob Langhe hatte demnach Verbindungen zum Überseehandel.
Was bedeutet das für die Herkunft des Jakobsstabs? Hier lohnt es sich, das Objekt noch einmal näher in den Blick zu nehmen: Der Längsstab ist aus Ebenholz, während die Querstäbe aus Birnbaumholz bestehen. In einem zeitgenössischen Inventar wird ersteres als „Indianische[s] Holtz“ bezeichnet.[6] Im selben Inventar wird der Stab „Gradbogen“ genannt – eine Ähnlichkeit zur niederländischen Bezeichnung Graadbogen. Möglicherweise handelt es sich also um eine niederländische Herkunft. Dafür spricht auch die weit verbreitete Nutzung und Herstellung des Geräts in den Niederlanden[7] – und die Verwendung des höchstwahrscheinlich aus Ostindien stammenden Ebenholzes, das über die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC) nach Europa gelangt sein könnte.
Wissen als Schatz
So hat dieses Objekt – zumindest das verwendete Material – einen weiten Weg zurückgelegt. In dem zeitgenössischen Inventar wird seine Funktion angedeutet, denn es handelt sich um einen Repräsentanten eines Jakobsstabs, „wie ihn die Schiffer zur See gebrauchen.“[8] Das zeigt auch ein näherer Blick auf das Objekt: Auf dem Längsstab findet sich an jeder Seite eine Skala, teilweise mit Sonnen- und Mondsymbolen versehen. Die Querstäbe haben jeweils einen Sockel, in dessen Mitte eine kleine Flügelschraube aus Messing sitzt. So lassen sich die Querstäbe entlang des Längsstabes verschieben. Der Eintrag im Inventar verweist auf „vier arm oder schieber“, heute sind jedoch nur noch drei erhalten – und der 2017 erschienene Katalog zur Ausstellung vermerkt, dass der kleinste der Querstäbe nicht mehr original ist und ersetzt werden musste. [9]
An einem Ende des Längsstabes gibt es eine Einkerbung, die an das Jochbein unter dem Auge angelegt wurde. Mithilfe der verschiebbaren Querstäbe konnte der Abstand zwischen zwei Punkten über den entstehenden Winkel am Auge ermittelt werden. Diese Technik, für die Astronomie entwickelt, aber auch in der Architektur und Landvermessung gebraucht, wurde seit Beginn des 16. Jahrhunderts auch in der europäischen Seefahrt genutzt und diente der Orientierung auf hoher See anhand eines fixen Punktes am Himmel – einem Stern oder Planeten – und der Linie des Horizonts.[10]
Ein Objekt von Welt?
Die Idee ging auf frühere wissenschaftliche Messinstrumente zurück. So nutzte der jüdische Gelehrte Levi ben Gerson Mitte des 14. Jahrhunderts eine ähnliche Technik bei der Entwicklung eines Winkelmessgeräts für die Astronomie. [11] Ein weiteres Vorbild war der kamal, ein Höhenmessgerät für die Seefahrt aus dem arabischen Raum, das von europäischen Seefahrern Ende des 15. Jahrhunderts adaptiert und verbreitet wurde. [12] Seit Beginn des 16. Jahrhunderts wurde der Jakobsstab und seine Anwendung in der Seefahrt weiterentwickelt – bis er seit den 1630er Jahren mit vier beschrifteten Seiten so oder so ähnlich wie dieses Exemplar aussah.[13]
Wahrscheinlich war die in dieses Gerät eingeschriebene Technik, das Wissen aus und über die Welt – auf Seefahrt genutzt und erlangt – Grund genug, diesen Jakobsstab als Geschenk für die Kunstkammer anzunehmen. Denn in den frühneuzeitlichen fürstlichen Sammlungen gehörten wissenschaftliche Instrumente zu beliebten Objekten [14] – um Anteil an Innovation zu nehmen und am Puls der Zeit zu sein.
Aus dem fürstlichen Anspruch, die ganze Welt und ihre Wunder zuhause sehen und zeigen zu können, ist auch diese Sammlung entstanden. Im Ausstellungsraum liegen Objekte, mit welchen weite Wege in die Welt möglich wurden, neben solchen, die von dort mitgenommen wurden. Hinter dem Glas zeugen sie von altem Wissen und anhaltender Faszination. Inzwischen sind solche Sammlungen aber auch Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen und Fragen geworden. Darunter besonders: Woher und wie kamen die Objekte ins Museum – oder eben in die Wunderkammer?
Ein Beitrag von Milena Frieling
Quellen:
Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 20 a Bü 23
Zeitgenössisches Inventar (ca. 1705-1723).
Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 20 a Bü 159, fol. 13a
Notiz über Erwerbungen für die Kunstkammer (1701)
Hauptstaatsarchiv Stuttgart A 256 Bd 184, Nr. 804, fol. 349v
Rechnung (1700/1701)
Literatur:
Findlen, Paula: Possessing nature. Museums, collecting, and scientific culture in early modern Italy Berkeley, 1994 (Studies on the history of society and culture, 20).
Freudenthal, Gad: Gersonides and the Jacob's Staff in the Fifteenth and Sixteenth Centuries: Unnoticed Enigmas, New Perspectives. In: Early Science and Medicine 21 (2016) (1), S. 29–53.
Goldstein, Bernard R.: Levi ben Gerson and the Cross Staff Revisited. In: Aleph 11 (2011) (2), S. 365–383.
Landesmuseum Württemberg: Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext. Band 1 und 2, Ostfildern 2017.
Mörzer Bruyns, W. F. J.: Sextants at Greenwich. A Catalogue of the Mariner's Quadrants, Mariner's Astrolabes, Cross-staffs, Backstaffs, Octants, Sextants, Quintants, Reflecting Circles and Artificial Horizons in the National Maritime Museum, Greenwich Oxford, 2009.
Müsch, Irmgard / Hamel, Jürgen: Wissenschaftliche Instrumente. In: Landesmuseum Württemberg (Hg.): Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext. Band 2. Ulm, Heidelberg 2017, S. 817–895.
Fußnoten:
[1] Vgl. HStAS A 20 a Bü 23, S. 4.
[2] Vgl. Müsch, Irmgard / Hamel, Jürgen: Wissenschaftliche Instrumente. In: Landesmuseum Württemberg (Hg.): Die Kunstkammer der Herzöge von Württemberg. Bestand, Geschichte, Kontext. Band 2 2017. Ulm, Heidelberg, S. 817–895, hier S. 860.
[3] Vgl. Ebd., S. 860–861.
[4] Vgl. HStAS A 20 a Bü 159, fol. 13a.
[5] Vgl. HStAS A 256 Bd 184, Nr. 804, fol. 349v.
[6] Müsch / Hamel: Wissenschaftliche Instrumente, S. 861, HStAS A 20 a Bü 23, S. 74.
[7] Vgl. Mörzer Bruyns, W. F. J.: Sextants at Greenwich. A Catalogue of the Mariner's Quadrants, Mariner's Astrolabes, Cross-staffs, Backstaffs, Octants, Sextants, Quintants, Reflecting Circles and Artificial Horizons in the National Maritime Museum, Greenwich / Oxford 2009, S. 17.
[8] HStAS A 20 a Bü 23, S. 4.
[9] Vgl. Müsch / Hamel: Wissenschaftliche Instrumente, S. 860–861.
[10] Vgl. Mörzer Bruyns: Greenwich, S. 16–17.
[11] Vgl. Goldstein, Bernard R.: Levi ben Gerson and the Cross Staff Revisited. In: Aleph 11 (2011), S. 365.
[12] Vgl. Mörzer Bruyns: Greenwich, S. 16.
[13] Vgl. Ebd., S. 17.
[14] Vgl. Findlen, Paula: Possessing nature. Museums, collecting, and scientific culture in early modern Italy Berkeley, 1994 (Studies on the history of society and culture, 20).
Bilder:
*Copyright Fotos Objekt
Landesmuseum Württemberg, Hendrik Zwietasch
Commons Lizenz, CC BY-SA
**Holzschnitt, 17. Jahrhundert
Commons Lizenz, CC BY-4.0
https://wellcomecollection.org/works/rk42tf8w (23.03.2023)
Wir wünschen viel Freude mit unseren sieben globalen schwäbischen Objekten und ihren Geschichten:
1. Clemens Eberlein: „Orakel in Ulm“
2. Ingo Fiegenbaum: „Schwäbisches Medusenhaupt“
3. Milena Frieling: „Ein Winkelmessgerät in der Wunderkammer?“
4. Sonja Friese: „Von der Mine ins Museum. Die außergewöhnliche Karriere eines Kohlestücks“
5. Rebecca Kowalski: „Tradition im Wandel? Die Schramberger Fasnet“
6. Carolin Mai: „Ein Sticker auf Reisen“
7. Lukas Schultze-Melling: „Goldene Grüße aus Übersee“
Seminargruppe, Redaktion: Sonja Friese und Christina Brauner
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