Der „Deutsche Herbst“ und die Geschichte der RAF stoßen in Schule und Öffentlichkeit auf großes Interesse. Dies zeigt sich in frei zugänglichen Materialien auf Plattformen wie „Offene Geschichte“ [externer Link, frei zugängliches Unterrichtsmaterial] bis hin zu Spielfilmen wie „Der Baader Meinhof Komplex“ (2008). Was ist von dieser Produktion zu halten?
In einer der teuersten Produktionen der deutschen Filmgeschichte unternahmen Regisseur Uli Edel und Drehbuchautor Bernd Eichinger 2008 den ambitionierten Versuch, die etwa zehnjährige Wirkungsgeschichte der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) in einem zweieinhalbstündigen Spielfilm zu vermitteln.
Der Anspruch der Filmemacher hätte größer kaum sein können: Basierend auf Stefan Austs Sachbuch „Der Baader Meinhof Komplex“[1] und mit dessen persönlicher Unterstützung sollte die Geschichte der RAF so authentisch wie möglich dargestellt werden. Damit setzte sich „Der Baader Meinhof Komplex“ nicht nur von den bis dato geltenden Standards des deutschen Eventfernsehens ab, sondern auch von bisher zum RAF-Terror gedrehten Filmen. Kritiken hatten früheren RAF-Spielfilmen wie „Die Stille nach dem Schuss“ (2000) oder „Baader“ (2002) vorgeworfen, den Terrorist*innen – wenn auch in unterschiedlicher Weise – mit Sympathie zu begegnen und so der Unerträglichkeit des Terrors erträgliche Motive entgegenzusetzen.[2] Edels und Eichingers Film sollte die Geschichte aber auch nicht in Form eines Doku-Dramas vermitteln, wie es die preisgekrönte Produktion „Todesspiel“ (1997) getan hatte. Ziel der Filmemacher war es, durch das Aneinanderreihen von Episoden der RAF-Geschichte eine „Fetzendramaturgie“ zu erzeugen, die Fragen stellt, aber die Antworten nicht sofort mitliefert: „Das sollte kein Lehrfilm über den deutschen Terrorismus werden.“[3] Regisseur Uli Edel präzisierte, Ziel des Films sei es, „die Geschichte der RAF nicht jemandem [zu] erzählen, der sie schon kennt […], sondern unseren Kindern, die so gut wie nichts darüber wissen.“[4]
Die hohen Ambitionen des Projekts spiegelten sich im Budget von 13,5 Mio. Euro, dem Aufgebot von 123 Sprechrollen und mehr als 6000 Statist*innen an 140 Schauplätzen wider, aber auch im Engagement Stefan Austs.[5] Vor allem im Streben nach größtmöglicher Authentizität liegt zugleich die größte Schwierigkeit des 144-minütigen Films. In kurzer Abfolge arbeitet sich der Film durch den Staatsbesuch des Schahs in Westberlin samt Demonstration und Tod Benno Ohnesorgs, Rudi Dutschkes Rede im Audimax der TU Berlin, gefolgt von dessen Ermordung und dem Protest gegen den Axel-Springer-Verlag. Weiter eilt die Handlung zur Brandstiftung in zwei Frankfurter Kaufhäusern inklusive des nachfolgenden Prozesses, bei dem sich Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Andreas Baader kennenlernen. Über etwa zweieinhalb Stunden reiht sich eine Episode der RAF-Geschichte an die nächste. In seinem enormen Erzähltempo schreitet der Film voran, über mehrere RAF-Bombenanschläge, die Inhaftierungen von Baader, Ensslin und Meinhof in Stuttgart-Stammheim, die Ermordung Siegfried Bubacks, die Entführung des Lufthansa-Flugzeugs „Landshut“ und die (versuchten) Selbstmorde in den Zellen des Stammheimer Hochsicherheitstrakts bis hin zur Entführung Hans-Martin Schleyers sowie dessen Ermordung im „Deutschen Herbst“ 1977.
Trotz der gewaltigen inhaltlichen Fülle ist es Aust, Edel und Eichinger gelungen, dem Anspruch der neutralen Distanz in einer für einen Spielfilm seltenen Weise gerecht zu werden. Kritiker lobten, dass es kaum einem zuvor gedrehten Film gelungen sei, „die Gewaltatmosphäre der Jahre 1967/68 so eindringlich“ zu vermitteln,[6] oder zweideutiger: „Es ist nicht das Hörbuch zum Aust-Bestseller, es ist das Bilderbuch.“[7] Während die künstlerischen und technischen Aspekte des Films in großen Teilen positiv rezipiert wurden, stieß der Film trotz seines Strebens nach Faktizität und Neutralität aber gerade inhaltlich auf Vorbehalte. Vor allem, dass in beinahe zweieinhalb Stunden Film kein Geschichtsbild des RAF-Terrors entwickelt wird, bemängelten zahlreiche Kritiken. „Kein ernsthafter Versuch einer Interpretation oder gar Analyse jener Zeit“ sei dem Film zu entnehmen, befand etwa die Rezension des Tagesspiegels.[8] Andere wiesen darauf hin, dass die Filmemacher auf biografische Erklärungen terroristischer Karrieren verzichtet und strittige Punkte umgangen hätten.[9] Insbesondere in der Beurteilung der Terrorost*innen spiegele sich die Uneindeutigkeit des Films wider, denn „wo die einen die Terroristen pervers heroisiert sehen, finden andere sie als kaltblütige Mörder entlarvt.“[10]
Dass über die Uneindeutigkeit des Films gestritten wurde, lässt sich aber auch als erfolgreich gewahrte ‚Distanz und Neutralität‘ von Eichinger und Edel interpretieren. Und auch den Anspruch größtmöglicher Faktentreue haben die Filmemacher mit ihrem Parforceritt durch die RAF-Geschichte eingelöst: Für nahezu jedes Detail ließe sich auf der Basis von Austs Buch ein entsprechender Aktenvermerk vorlegen. Allerdings liegt in der Nähe zum Buch auch ein Problem des Films. Das atemberaubende Tempo der Erzählung wird dank eines Stilmittels ermöglicht, das sich von Beginn an durch den Film zieht: Während die Zuschauenden beispielsweise die Gewalt gegen die demonstrierenden Studenten beim Schahbesuch und den Tod Benno Ohnesorgs sehen, liest Ulrike Meinhof aus ihrer konkret-Kolumne vor. Nur diese Gleichzeitigkeit aus Action und quellengestützten Erklärungsansätzen für die Gewalt im „theoretischen Voice-over“[11] ermöglicht die rasante Abhandlung der RAF-Geschichte. Doch in dieser Gleichzeitigkeit haben sich weder Entwicklungen vollzogen noch Personen gehandelt.
Aus dem Tempo, mit dem „Der Baader Meinhof Komplex“ erzählt wird, ergeben sich weitere, tiefgreifendere Probleme. Die Aneinanderreihung so vieler Episoden lässt den Film von einem Höhepunkt zum nächsten springen, sodass sich keine Klimax entwickeln kann und einzelne Ereignisse ihrer historischen Bedeutung nicht gerecht werden können. Hinzu kommt die schnelle und zuweilen oberflächliche Erzählung innerhalb einzelner Handlungsabschnitte, die beispielsweise die Verhaftung des Dutschke-Attentäters Josef Bachmann wie eine platt inszenierte Schießerei mit der Polizei in bester Wild-West-Manier wirken lässt. Auch das Geschichtsbild, das der Film vom RAF-Terror zu zeichnen versucht, leidet unter dem rasanten Tempo. Zwar sind Eichinger und Edel nicht mit dem Ziel angetreten, einen Lehrfilm zu drehen, allerdings lässt die Fülle der Handlung kaum noch Platz, um die zunehmende Radikalisierung der RAF zu erklären, oder aus den Biografien der Terrorist*innen eine innere Logik abzuleiten. Den linken Terror der Jahre 1967 bis 1977 zu erklären überlassen die Filmemacher stattdessen ihrem Publikum. Unter dem Gesichtspunkt der Geschichtsvermittlung hat der Film neben seinem Tempo und seiner geringen Erklärungskraft ein weiteres grundlegendes Problem: Für Zeitzeug*innen, die den RAF-Terror und den „Deutschen Herbst“ miterlebt haben, wären wohl Deutungsangebote attraktiver gewesen als eine möglichst vollständige Rekapitulation der Ereignisse. Jüngere Zuschauer*innen ohne persönliche Erinnerung wiederum dürften angesichts des Erzähltempos Schwierigkeiten haben, der Flut an Informationen zu folgen. Besonders problematisch ist dies angesichts des selbst auferlegten Anspruchs der Filmemacher, mit ihrer Produktion die RAF-Geschichte eben jenen jungen Menschen vermitteln zu wollen, die – Zitat Edel – „so gut wie nichts darüber wissen.“
„Der Baader Meinhof Komplex“ ist eine filmtechnisch und künstlerisch zurecht gelobte Geschichte des linken Terrorismus in der Bundesrepublik zwischen 1967 und 1977. Um im Sinne des eigenen geschichtsvermittelnden Anspruchs erfolgreicher zu sein, hätte der Film paradoxerweise weniger Inhalt aus Stefans Austs Vorlage in das Drehbuch übernehmen und stattdessen eine stärkere Erklärung entwickeln sollen. Dass der Film trotzdem einen eindrucksvollen Überblick über ein bedeutendes Kapitel bundesdeutscher Geschichte bietet, sollte dabei ebenso wenig außer Acht gelassen werden wie die für einen Spielfilm bemerkenswerte Detailtreue.
von Bernhard Schnabel
Details zum Film auf einen Blick:
Titel: Der Baader Meinhof Komplex
Genre: Spielfilm
Länge: 114 Minuten (Kinofassung), 152 Minuten (TV-Fassung)
Erscheinungsjahr: 2008
Regie: Uli Edel
Drehbuch: Bernd Eichinger
Nachweise:
Aust, Stefan: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1985.
Eichinger, Katja: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film, Hamburg 2008.
Fuhr, Eckhard: „Baader Meinhof Komplex“. Terror als Action, in: Welt, 18.09.2008. URL: https://www.welt.de/kultur/article2461404/Terror-als-Action.html, (04.02.2023).
Kniebe, Tobias: „Der Baader Meinhof Komplex“. Bang Boom Bang, in: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010. URL : https://www.sueddeutsche.de/kultur/kino-der-baader-meinhof-komplex-bang-boom-bang-1.688528, (04.02.2023).
Kothenschulte, Daniel: Belmondo Baader, in: Frankfurter Rundschau, 18.09.2008, aktualisiert 30.01.2019. URL: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/belmondo-baader-11593040.html, (04.02.2023).
Kurbjuweit, Dirk: Bilder der Barbarei, in: Der Spiegel 37 (2008). URL: https://www.spiegel.de/politik/bilder-der-barbarei-a-34ef3c0f-0002-0001-0000-000059889957?context=issue, (06.02.2023).
Schulz-Ojala, Jan: „Baader Meinhof Komplex“. Extrem laut und unglaublich fern, in: Tagesspiegel, 18.09.2008. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/kino/extrem-laut-und-unglaublich-fern-1697311.html, (04.02.2023).
Fußnoten:
[1] Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex, Hamburg 1985.
[2] Vgl. Dirk Kurbjuweit: Bilder der Barbarei, in: Der Spiegel 37 (2008). URL: https://www.spiegel.de/politik/bilder-der-barbarei-a-34ef3c0f-0002-0001-0000-000059889957?context=issue, (06.02.2023).
[3] Katja Eichinger: Der Baader Meinhof Komplex. Das Buch zum Film, Hamburg 2008, S. 24.
[4] Ebd., S. 34.
[5] Vgl. Jan Schulz-Ojala: „Baader Meinhof Komplex“. Extrem laut und unglaublich fern, in: Tagesspiegel, 18.09.2008. URL: https://www.tagesspiegel.de/kultur/kino/extrem-laut-und-unglaublich-fern-1697311.html, (04.02.2023).
[6] Eckhard Fuhr: „Baader Meinhof Komplex“. Terror als Action, in: Welt, 18.09.2008. URL: https://www.welt.de/kultur/article2461404/Terror-als-Action.html, (04.02.2023).
[7] Daniel Kothenschulte: Belmondo Baader, in: Frankfurter Rundschau, 18.09.2008, aktualisiert 30.01.2019. URL: https://www.fr.de/kultur/tv-kino/belmondo-baader-11593040.html, (04.02.2023).
[8] Schulz-Ojala: „Baader Meinhof Komplex“ (2008).
[9] Vgl. Fuhr: „Baader Meinhof Komplex“; Kothenschulte: Belmondo Baader.
[10] Tobias Kniebe: „Der Baader Meinhof Komplex“. Bang Boom Bang, in: Süddeutsche Zeitung, 17.05.2010. URL: https://www.sueddeutsche.de/kultur/kino-der-baader-meinhof-komplex-bang-boom-bang-1.688528, (04.02.2023).
[11] Ebd.
Bilder:
*https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bavaria_Filmstudio_Baader_Meinhof_Komplex.jpg; https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/57/Bavaria_Filmstudio_Baader_Meinhof_Komplex.jpg
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