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75 Jahre Grundgesetz – Die Verdienste der „Mütter des Grundgesetzes“


Am 23. Mai 2024 feiert der Bundestag das 75. Jubiläum des Grundgesetzes unter dem Motto „Demokratie feiern“.[1] Wie zu jedem „Geburtstagskind“ gehören auch zu diesem „Väter“ – und „Mütter“. Von September 1948 bis Mai 1949 erarbeitete der Parlamentarische Rat die Verfassung der Bundesrepublik.[2] Den Vorsitz führte Konrad Adenauer (1876–1967). Auch der bis heute als „Papa Heuss“ bekannte erste Bundespräsident Theodor Heuss (1884–1963) war Teil dieses Gremiums.[3] Nach 75 Jahren wird es Zeit, die Frauen stärker in den Blick zu nehmen. Wer waren die „Mütter des Grundgesetzes“? Was haben wir ihnen zu verdanken?

Bronzestatue von Dr. Elisabeth Selbert. Bild: Hl74de, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons.*
Bronzestatue von Dr. Elisabeth Selbert. Bild: Hl74de, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons.*

 

50 Prozent der Frauen, die Teil des Parlamentarischen Rates waren, trugen den Vornamen Helene. Dies wäre eine beeindruckende Quote – allerdings saßen insgesamt nur zwei Helenes in dem Gremium: Helene Wessel (Zentrum) und Helene Weber (CDU). Mit ihnen waren Friederike (Frieda) Nadig (SPD) und Elisabeth Selbert (SPD) Teil des Rates, in dem sie mit 61 Männern die Verfassung der BRD aushandeln sollten.[4] Dabei prägten die vier „Mütter des Grundgesetzes“ die Debatten auch als Vertreterinnen der Frauen in der Nachkriegsgesellschaft. Im Folgenden erfolgt ein kleiner Überblick über ihre Biografien und Positionen.

 

Elisabeth Selbert (1896–1986) setzte den Fokus ihrer Arbeit vor allem auf den Aufbau eines von der Regierung unabhängigen Richteramtes.[5] Selbert setzte sich  für die Gleichberechtigung von Mann und Frau mit Würdigung der Leistungen der Frauen in der Nachkriegszeit ein.[6] Sie brachte ihre Erfahrungen aus dem Beruf und der Zeit des Nationalsozialismus ein: So habe sie „[…]die Nazi-Justiz aus der Nähe, und zwar als Anwalt im Dritten Reich, erlebt […]“[7] und sorge sich daher um die Zukunft des Justizsystems. Durch ihr Engagement für die Gleichberechtigung hat Selbert den Zuspruch ihrer Partei, besonders auf Bundesebene, teilweise verloren.[8] Bei den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag verpasste Selbert knapp den Einzug ins Parlament.[9] Sie wurde 1949 Abgeordnete im hessischen Landtag, zog sich jedoch Ende der 1950er Jahre aus der Politik zurück und arbeitete als Anwältin im Familienrecht.[10]

 

Schild am Herforder Rathaus über Frieda Nadig. Bild: Dr. Peter Schneider, Format angepasst. CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons.**
Schild am Herforder Rathaus über Frieda Nadig. Bild: Dr. Peter Schneider, Format angepasst. CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons.**

Frieda Nadig (1897–1970) lag besonders die Gleichberechtigung von Frauen und Männern am Herzen, sowie auch das Ehe- und Familienrecht. Sie hatte zuvor als Jugend- und Gesundheitspflegerin und bei der Arbeiterwohlfahrt gearbeitet, wo sie 1933 im Rahmen der nationalsozialistischen Gleichschaltung umgehend als ‚politisch unzuverlässig‘[11] aus dem öffentlichen Dienst entlassen wurde.[12] Auch aus dieser Arbeitserfahrung heraus sprach sie sich für die Gleichstellung von unehelichen und ehelichen Kindern aus. Zudem forderte sie unter anderem, dass ein Artikel zur Lohngleichstellung von Frauen und Männern aufgenommen werden sollte.[13] Nadig brachte den von Elisabeth Selbert initiierten Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in die Verhandlungen ein[14], der sich im Grundgesetz in Art. 3 (2)

Helene Weber. Bild: Georges Chevalier, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons.***
Helene Weber. Bild: Georges Chevalier, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons.***

wiederfindet. Ihre politische Tätigkeit endete nicht mit der Verabschiedung des Grundgesetzes: Von 1949 bis 1961 war sie Mitglied des Bundestages.[15]

 

Helene Weber (1881–1962) war nicht neu auf dem politischen Parkett – sie hatte bereits der Nationalversammlung der Weimarer Republik angehört. Weber wurde nach der Machtübertragung der Nationalsozialisten wie Frieda Nadig wegen ‚politischer Unzuverlässigkeit‘ von ihren Posten entbunden.[16] Im Parlamentarischen Rat setzte sich ebenfalls wie Nadig für die (Lohn-)Gleichstellung und das Elternrecht ein.[17] Dabei sah sie es als Pflicht der Frauen an, sich politisch in der neu gegründeten Demokratie einzubringen.[18] Sie beschränkte ihr Engagement nicht nur auf die direkte politische Arbeit, sondern war darüber hinaus auch Vorsitzende der Frauen Union und in der katholischen Frauenbewegung aktiv.[19] Von 1949 bis zu ihrem Tod 1962 war sie Mitglied des Deutschen Bundestages.[20]

 

Helene Wessel (1898–1969) setzte sich wie Frieda Nadig mit dem Ehe- und Familienrecht auseinander. Sie sah es als die Aufgabe des Staates an, für die zahlreichen „ledigen Mütter“ nach dem Zweiten Weltkrieg zu sorgen, und auf die steigende Scheidungsrate zu reagieren.[21] Die Ehe sollte durch das Grundgesetz

Helene Wessel. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-17490-0004 / Herberg / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons.****
Helene Wessel. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-17490-0004 / Herberg / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons.****

geschützt werden. Auch forderte sie eine direktere Demokratie mithilfe von Volksabstimmungen.[22] Da ihrer Ansicht nach zu viele elementare Rechte in der finalen Fassung des Gesetzes fehlten, stimmte sie bei der Abstimmung am 8. Mai 1949 als eine von 12 Abgeordneten gegen das Gesetz. Dennoch wurde sie Fraktionsvorsitzende der Zentrumspartei, trat 1951 jedoch von ihrem Amt zurück, um schließlich 1957, nun Teil der SPD Fraktion, in den Bundestag zurückzukehren.[23]

Während sich der Rat in einigen Punkten schnell einigen konnte, stellten das Ehe – und Familienrecht und die Formulierung des Gleichstellungsartikels eine entscheidende Hürde dar. Insbesondere in Fragen des Familien- und Eherechts waren sich die Frauen, wie auch der Rest des Rates, uneinig.[24] So forderte Helene Weber, dass der Staat dafür sorgen müsse, dass uneheliche Kinder dieselbe Förderung wie eheliche Kinder erhielten.[25] Auch Nadig wollte den Schutz der Mutterrechte Alleinerziehender betonen, während sich Helene Wessel gegen eine solche Formulierung aussprach.[26] Bei der Formulierung des Gleichstellungsartikels waren sie sich ebenfalls nicht von Anfang an einig. So wollten Wessel und Weber, dass die besonderen Rechte von Frauen mit Betonung der „Weiblichkeit“ genannt würden.[27] Selbert setzte sich hingegen für eine reduzierte Formulierung ein: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt.“[28] Nachdem sie auch die Unterstützung von Arbeiterinnen und Politikerinnen außerhalb des Parlamentarischen Rates erhielt, konnte Selbert auch die anderen Frauen im Rat überzeugen. Am 19. Januar 1949 wurde der Gleichstellungsartikel in Selberts Formulierung angenommen.[29] Er betonte revolutionär und eindeutig die Gleichheit von Mann und Frau.

 

Seit 2023 stellt das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend die On-Demand Ausstellung „Mütter des Grundgesetzes“ zur Verfügung. Die Ausstellung kann von kommunalen Einrichtungen angefordert werden, auch eine Broschüre (externer Link) zur Ausstellung wird angeboten und ist online zugänglich.

Das am 15. Mai 2024 erschienene Lesebuch (externer Link) Der nächste Redner ist eine Dame – Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag zeigt u. a. auf, mit welchen Schwierigkeiten die Abgeordneten Frauen zu kämpfen hatten – auch im Bundestag waren Frauen deutlich unterrepräsentiert. Hierzu ist bereits ein Blogbeitrag von Clara Müller erschienen. 

 

Als die Arbeit am Grundgesetz im Parlamentarischen Rat beendet war, ging die Arbeit der Frauen im Bundestag und den Länderparlamenten weiter. Anna Haag setzte sich z. B. für die Abschaffung der Wehrpflicht ein. Der von Haag in baden-württembergische Landesgesetz eingebrachte Artikel steht heute in einer ähnlichen Variante im Grundgesetz Art. 4 (3): „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“

 

Ein Beitrag von Lara Stoller


Quellen:

Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 1, Vorgeschichte, Boppard 1975.

Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 9, Plenum, München 1996.

Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 14, Hauptausschuss, München 2009.

 

Nachweise:

Broschüre zur Ausstellung: „Die Mütter des Grundgesetzes“, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2023, aufrufbar unter: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/muetter-des-grundgesetzes-80456 (18.5.24).

Bundesregierung: 75 Jahre Grundgesetz. Ein Fest für die Demokratie (8.5.2024) URL: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/75-jahre-grundgesetz/demokratiefest-75-jahre-grundgesetz-2257858 (18.5.2024).

Carstens, Peter: Verständiger Mann mit Überblick. Deutschlandfunk (2013), URL: https://www.deutschlandfunk.de/biografie-theodor-heuss-verstaendiger-mann-mit-ueberblick-100.html (16.5.2024).

Deutscher Bundestag (Hg.): „Der nächste Redner ist eine Dame“. Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag, Berlin 2024.

Feldkamp, Michael: Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1949. Option für die europäische Integration und die deutsche Einheit, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Berlin 2008. 

Trösch, Sven/Haunhorst, Regina: Biografie Elisabeth Selbert, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: https://www.hdg.de/lemo/biografie/elisabeth-selbert.html (20.05.2024).

 

Bilder:

Titelbild: Helene Weber und Theodor Heuss. Bild: Bundesarchiv, B 145 Bild-F006445-0024 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_B_145_Bild-F006445-0024,_M%C3%BCttergenesungswerk_bei_Bundespr%C3%A4sident_Heuss.jpg

* Bronzestatue von Dr. Elisabeth Selbert, Hl74de, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bronzestatue_zu_Dr._Elisabeth_Selbert.jpg

** Schild am Herforder Rathaus über Frieda Nadig. Bild: Dr. Peter Schneider, Format angepasst, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Frieda_Nadig,_Herford,_Schild.jpg

***  Helene Weber. Bild: Georges Chevalier, CC BY 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by/4.0>, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:1931_Helene_Weber.jpg

**** Helene Wessel. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-17490-0004 / Herberg / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en>, via Wikimedia Commons, URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_183-17490-0004,_Helene_Wessel_(cropped).jpg

 


Fußnoten:

[1] Vgl. Bundesregierung: 75 Jahre Grundgesetz. Ein Fest für die Demokratie (8.5.2024) URL: https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/75-jahre-grundgesetz/demokratiefest-75-jahre-grundgesetz-2257858 (18.5.2024).

[2] Feldkamp, Michael: Der Parlamentarische Rat und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland 1948 bis 1949. Option für die europäische Integration und die deutsche Einheit, herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung e.V., Berlin 2008, S. 13-15.

[3] Vgl.  Carstens, Peter: Verständiger Mann mit Überblick. Deutschlandfunk (2013), URL: https://www.deutschlandfunk.de/biografie-theodor-heuss-verstaendiger-mann-mit-ueberblick-100.html (16.5.2024).

[4] Vgl. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat, S. 19ff.

[5] Vgl. ebd., S. 10.

[6] Vgl. Siebzehnte Sitzung des Hauptausschusses 3. Dezember 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 14, Hauptausschuss, München 2009, S. 510.

[7] Vierundzwanzigste Sitzung des Hauptausschusses 9. Dez. 1948, in: Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 14, Hauptausschuss, München 2009, S. 725.

[8] Broschüre zur Ausstellung: „Die Mütter des Grundgesetzes“, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2023, URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/muetter-des-grundgesetzes-80456 (18.5.2024), S. 12.

[9] Vgl. Trösch, Sven/Haunhorst, Regina: Biografie Elisabeth Selbert, in: LeMO-Biografien, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/biografie/elisabeth-selbert.html (20.05.2024)

[10] Vgl. BMFSFJ, Mütter, S. 12.

[11] Deutscher Bundestag (Hg.): Der nächste Redner ist eine Dame, Die Frauen im ersten Deutschen Bundestag, Berlin 2024, S. 198

[12] Vgl. Der nächste Redner, S. 198

[13] Vgl. Broschüre zur Ausstellung: „Die Mütter des Grundgesetzes“, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Berlin 2023, URL: https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/muetter-des-grundgesetzes-80456 (18.5.2024), S. 7.

[14] Vgl. Der nächste Redner, S. 198.

[15] Vgl. ebd., S. 8.

[16] Vgl. Der nächste Redner, S. 242.

[17] Vgl. ebd., S. 15.

[18] Vgl. ebd., S. 16.

[19] Vgl. ebd., S. 17.

[20] Vgl. Der nächste Redner, S. 242.

[21] Vgl. ebd., S. 11f.

[22] Ebd.

[23] Ebd., S. 600.

[24] Vgl. BMFSFJ, Mütter, S. 11.  

[25] Ebd.

[26] Ebd., S. 12f.

[27] Vgl. BMFSFJ, Mütter, S. 21.

[28] Vgl. Der Parlamentarische Rat 1948-1949. Akten und Protokolle, herausgegeben vom Deutschen Bundestag und Bundesarchiv, Band 1, Vorgeschichte, Boppard 1975, S. XXII.

[29] Vgl. BMFSFJ, Mütter, S. 22f.

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Bild: (C) Ch. Links Verlag
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Bild: (C) Deutscher Bundestag / Felix Zahn / photothek.
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