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Reihe: Queere Erinnerungskultur in Stuttgart und Umgebung 1/4 - Ursprünge der queeren Erinnerungskultur


Im Stuttgarter Oberen Schlossgarten, genau zwischen dem Opern- und dem Schauspielhaus, ist inmitten der sonst kahlen Waschbetonplatten ein nahezu unauffälliges Denkmal aus Kopfsteinpflaster eingelassen. Der Unterschied zwischen den beiden Bodenmaterialien ist so gering, dass Passant*innen meist darüber hinweggehen. Es scheint ein nahezu vergessener

Vor der Stuttgarter Oper am Eckensee erinnert ein Denkmal an die Opfer der AIDS-Pandemie (© Timo Mäule).
Vor der Stuttgarter Oper am Eckensee erinnert ein Denkmal an die Opfer der AIDS-Pandemie (© Timo Mäule).

Erinnerungsort zu sein. Auf einigen der Pflastersteine stehen Namen: „Rolf“, „Michael“, „Karlo“ ist dort zu lesen. Auch prominente Namen lassen sich erkennen. Der Lyriker und Geschichtenerzähler Eberhard Bechtle oder der Leadsänger der britischen Band Queen, Freddie Mercury, sind auf den Steinen verewigt. Es sind Menschen, die alle etwas gemeinsam haben: Sie waren HIV-positiv und sind an der Immunschwäche-Erkrankung AIDS gestorben. Das Denkmal vor der Oper soll ihren Angehörigen und der Öffentlichkeit einen Erinnerungsort im Zentrum der Stadt geben. Die meisten der hier verewigten Personen eint jedoch noch ein anderes Merkmal: Sie waren homosexuell und gehörten zu dem, was heute als LSBTTIQ-Community bezeichnet wird (lesbisch, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und damit queere Community (externer Link)).

 

Öffentliche Erinnerungskultur ist meist heterosexuell. Die Lebenswelten von queeren Menschen kommen in ihr nur am Rande vor, denn meist wird nur an das erinnert, was die Öffentlichkeit kennt, was ein Großteil von ihr selbst erlebt oder im Schulunterricht und den Medien erfahren hat. Kaum verwunderlich, wenn über queere Geschichte bis heute nicht allzu viel bekannt ist. Dennoch gehört die Vergangenheit von LSBTTIQ-Menschen genauso in die Geschichte wie die NS-Zeit, die „68er“-Bewegung oder der Mauerfall. Ebenso wenig verwunderlich ist, dass queere Geschichte bisher hauptsächlich innerhalb der eigenen Subkultur bearbeitet wurde. Diese Forschung an der eigenen Vergangenheit war Ausdruck des Bedürfnisses, die Erinnerung an den Kampf um Gleichberechtigung – der bis heute das zentrale Anliegen der Bewegung ist – wachzuhalten. LSBTTIQ-Geschichte und die Erinnerung daran sind damit ein queeres Produkt.

 

Darum funktioniert Gedenken innerhalb der LSBTTIQ-Community anders als die „klassische“ Erinnerungskultur. In der queeren Geschichtstradierung geht es  um zwei Ziele: Repräsentation nach außen und Zusammenhalt nach innen. Während die Vertretung queerer Anliegen vor der Öffentlichkeit den weitaus bekannteren Teil dieser beiden Felder ausmacht, ist das Schaffen eines community-internen Zusammengehörigkeitsgefühls und eines Vertrauensraumes grundlegend für das Funktionieren dieser Erinnerungsarbeit. Nur wenn man sich auf eine gemeinsame Geschichte berufen kann, funktioniert eine kollektive Erinnerungskultur. Dieser Mechanismus kommt auch bei anderen Minderheiten vor. Die Schaffung eines Safe Space nach innen ermöglicht das gemeinsame Vertreten von Interessen nach außen.

 
Gedenken ist in der Community dadurch auch ein Mittel des Sichtbarwerdens dieses immer sicherer gewordenen Raumes. Das Erinnern an die  Unterdrückungsgeschichte von LSBTTIQ-Menschen verstärkt den Zusammenhalt innerhalb der Community. Erinnerungskultur ist damit ein Instrument, um das Ende der gesellschaftlichen Unterdrückung zu erreichen. Hinter diesem Konzept verbirgt sich ein Geschichtsbild, das von „schlecht“ zu „gut“ läuft und damit einem Fortschrittsnarrativ folgt. Im Gegensatz zur „klassischen“ Erinnerungskultur, die in Deutschland oftmals negative Abschnitte der Geschichte in das öffentliche Gedenken rückt und damit versucht, Lehren für die Zukunft zu ziehen, ist das Narrativ der LSBTTIQ-Gemeinschaft als eine Erfolgsgeschichte angelegt.


Doch wie kam es zu dieser Art der Erinnerungskultur? Diese Reihe möchte die Entstehung der sogenannten queeren Bewegung nachzeichnen und damit auch ihre Erinnerungsanker in der Geschichte nachvollziehen. Lesen Sie dazu im nächsten Beitrag
über die Ursprünge der LSBTTIQ-Bewegung. Denn ohne diese Ursprünge lassen sich die für die sonstige öffentliche Erinnerungskultur teils untypischen Orte queeren Erinnerns nur schwer verstehen.

 

Ein Beitrag von Timo Mäule

 

Lesen Sie hier Teil 2, Teil 3 und Teil 4 der Blogreihe!


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Bild: Der Kuckuck, 12.01.1930.
Bild: Der Kuckuck, 12.01.1930.

 

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