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Was die Demonstrierenden in Stuttgart 1979 noch nicht ahnen konnten: Noch vor der Abschaffung des Paragrafen 175 folgte ein weiterer düsterer Abschnitt der LSBTTIQ-Geschichte: die AIDS-Krise. In Baden-Württemberg erreichte sie 1985 ihren Höhepunkt, als im Land mehr als 560 HIV-Neuinfektionen registriert wurden – knapp 340 davon entstanden durch Sexualkontakte zwischen Männern. Auch in den „Zeitreihen zur Mortalität in Baden-Württemberg“, herausgegeben vom Landesgesundheitsministerium, weist die Sterblichkeit von Männern im Alter zwischen 40 und 45 Jahren von 1980 bis 1994 einen durch HIV-Infektionen bedingten Anstieg auf.
Das Leiden der queeren Community fand 1985 in einer weiteren Demonstration Ausdruck. Denn die Krise wurde von den Medien und der Öffentlichkeit als eine „Schwulen-Pest“ wahrgenommen. Die öffentliche Solidarisierung mit den Opfern war gering. Die Angst vor AIDS förderte die allgemeine Panik vor und die Stigmatisierung von Andersliebenden. Bis heute lässt sich die Verdrängung des Themas am Stuttgarter Beispiel festmachen, denn es existieren – im Gegensatz zur ersten Demo für „Homobefreiung“ – keinerlei verfügbare Internetquellen zur AIDS-Demo. Grundsätzlich schafften es die Aktivisten in der Mitte der Achtzigerjahre aber schließlich doch, queere Interessen in die Öffentlichkeit zu tragen. AIDS wurde auf Bundesebene zum Thema, als ebenfalls 1985, Rita Süssmuth Bundesgesundheitsministerin wurde und sich – auch gegen Widerstände in der eigenen Partei – des Problems annahm. Die Gründung von AIDS-Hilfen als Selbsthilfeorganisationen sorgte für eine gesundheits- und sozialpolitische Anerkennung der Community.
In Stuttgart eröffnete die Anlaufstelle für AIDS-Betroffene ebenfalls im Jahr 1985. Schon zwei Jahre danach gab es Anlaufstellen unter anderem in Tübingen, Konstanz, Karlsruhe, Pforzheim, Heidelberg, Mannheim und Freiburg. Insgesamt kam es zu einem „Coming Public“ in der deutschen Gesellschaft. Auch Politik, Verwaltung und Behörden wurden nun mit den Interessen queerer Personen konfrontiert und mussten mit ihnen über gemeinsame Unterstützungsprogramme beraten.
Während der AIDS-Pandemie erreichte der queere Aktivismus 1987 eine neue Sichtbarkeit, als vier offen homosexuelle Männer in der Enquete-Kommission „AIDS“ (1987–1990) des Deutschen Bundestages mit dem Titel "Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" berufen wurden. Damit stellten queere Menschen die Hälfte der Sachverständigen in dieser Kommission. Neben der Betroffenheit von HIV-Infizierten war damit vor allem auch das Thema der männlichen Homosexualität in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Doch die AIDS-Pandemie war damit noch nicht vorüber. Noch bis zur Jahrtausendwende galt die Infektion mit HIV oft als Todesurteil. Erst danach gelang es der Wissenschaft, Medikamente zu entwickeln, die es Infizierten möglich machen, eine durchschnittliche Lebenserwartung zu erreichen. 2019 wurde die sogenannte Präexpositionsprophylaxe (kurz PrEP) als Kassenleistung für queere Menschen aufgenommen und somit das erste Präventivmedikament gegen HIV – wirksam wie ein Kondom – für alle zugänglich. Seitdem gehen die Infektionszahlen stark zurück.
Bis heute wird die Pandemie als das Trauma innerhalb der queeren Community wahrgenommen. Die auf American Studies spezialisierte Wissenschaftlerin Aimee Pozorski prägte hierfür den Begriff des „AIDS-Trauma“ in ihrem 2019 erschienenen Buch AIDS-Trauma and Politics. Die Pandemie sei als eine fortlaufende Reihe von Versäumnissen zu verstehen, die dazu führten, dass die Leiden der Opfer nicht wahrgenommen und anerkannt wurden. Die AIDS-Pandemie war demnach nicht einfach plötzlich aufgetreten, sondern systematisch in Politik, Rechtsprechung und Medien unterrepräsentiert worden, bis sie – ohne nennenswerte Anteilnahme der Öffentlichkeit – zu einer Pandemie wurde. Durch den Kampf um Anerkennung gelang es hier aber erneut, queere Interessen auszudrücken und so für eine Veränderung zu sorgen. Die AIDS-Krise war ein Katalysator für den Kampf um Gleichberechtigung.
Das AIDS-Denkmal und „The Invisible Man"
Zurück vor die Stuttgarter Oper: Das dortige Denkmal an die AIDS-Pandemie in Baden-Württemberg erinnert neben dem Schrecken und Verlust auch an die gemeinsamen Bemühungen der Community. Dabei wird das Narrativ eines erfolgreichen Kampfes gegen das Virus vermittelt. Das Nennen berühmter Personen auf dem Denkmal schafft gleichsam einen Bezugsrahmen für die unbeteiligte Öffentlichkeit. Personen wie Freddie Mercury stehen als Identifikationsfigur auch symbolisch für diejenigen, die ganz ohne öffentliche Aufmerksamkeit starben. Erinnern funktioniert hier sowohl über einen Ort als auch über die popkulturelle Erinnerung an eine Person. Gerade die Geschichte Freddie Mercurys zeigt auch, wie sehr Homosexuelle unter der Stigmatisierung zu leiden hatten. Schließlich hatte der Rockstar keine 25 Stunden vor Bekanntwerden seines Todes der Weltöffentlichkeit erklärt, dass er sich bereits Jahre zuvor mit HIV infiziert hatte. Die späte Bekanntgabe der Erkrankung, nötig geworden durch das zunehmend geschwächte Auftreten des Musikers und seinen Rückzug aus der Öffentlichkeit, verwies selbst noch in den 1990er-Jahren auf die Stigmatisierung des Krankheitsbildes. Auch seine Lebensgefährten Winnie Kirchberger und später Jim Hutton sollten nach ihm ebenfalls durch die Infektion mit HIV und den Ausbruch von AIDS sterben. Mercurys Geschichte ist kein Einzelfall und gibt den vielen Toten in Stuttgart und weltweit ein prominentes Gesicht: Er macht die vielen unsichtbaren HIV-Opfer sichtbar.
Der Erinnerungsort vor der Stuttgarter Oper ist aber nur einer von mehreren, die sich in Baden-Württemberg mit der Geschichte der AIDS-Pandemie auseinandersetzen. Auch in anderen großen Städten im Land gibt es solche Denkmäler. Diese entstanden, wie auch in Stuttgart, zumeist in den 1990er-Jahren und somit nach der Hochphase der Krise. Häufig stehen sie auf Friedhöfen, wo viele queere Menschen in den 1980er- und 1990er-Jahren – viel zu früh – ihre letzte Ruhestätte fanden. Auch in Heidelberg steht auf dem Bergfriedhof seit 2006 ein Denkmal. Hier wurden ebenfalls die Namen der Opfer auf Steinen um das Denkmal herum niedergelegt. Bekanntere Namen sind hier nicht zu finden, dafür aber eine Stele, an der die rote AIDS-Schleife als Erinnerungssymbol angebracht ist.
Ein Beitrag von Timo Mäule
Lesen Sie hier den nächsten Teil dieses Beitrags: Lebendige Erinnerungsorte in Stuttgart
Dieser Text entstand im Rahmen einer Lehrveranstaltung am Seminar für Zeitgeschichte und am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen, in der sich Studierende im Sommersemester 2022 mit weiteren Erinnerungsorten in Baden-Württemberg beschäftigt haben. Er wurde für die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg unter https://www.landeskunde-baden-wuerttemberg.de/queere-erinnerungskultur-in-stuttgart#c99636 (externer Link) publiziert.
(Weiterführende) Literatur:
Beck, David: HIV und Aids –
Geschichte einer Pandemie (externer Link) (= SWR2 Wissen, 01.12.2020).
Bruns, Manfred: Die
Schwulenbewegung in Deutschland. Von § 175 über die neuen Schwulengruppen zur Bürgerrechtsbewegung (=LSVD.de).
Cüppers, Martin/ Domeier, Norman (Hrsg.): Späte Aufarbeitung. LSBTTIQ-Lebenswelten im Südwesten. Schriften zur politischen Landeskunde Baden-Württembergs Bd. 50, Stuttgart 2018. (Link zum Shop , externer Link)
Reusch, Nina: Geschichte werden, Geschichte machen. In: Martin Cüppers/Norman Domeier
(Hrsg.): LSBTTIQ-Lebenswelten im deutschen Südwesten, Stuttgart 2018, S. 205.
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Reihe Queere Erinnerungskultur 2/4 - Von "Stonewall" bis Stuttgart
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