Welche Geschichten uns bekannt sind, hat viel damit zu tun, welche Quellen vorhanden sind und wozu bereits recherchiert wurde. Welche Schicksale, welche historischen Akteur*innen sind noch unerforscht? Genau hier hakten vor einigen Jahren Uni und Stadt Tübingen ein: Aus einem 2017 erstmals ins Leben gerufenen Forschungsprojekt entstand die Sonderausstellung „Queer durch Tübingen“ im Tübinger Stadtmuseum, die vom 25. September 2021 bis zum 17. Juli 2022 (verlängert vom 13. März) zu sehen war. Das Projekt ist bisher einzigartig in Baden-Württemberg. Es förderte einen Quellenreichtum zutage, der queeres Leben in und um Tübingen greifbar macht. Dieser Quellenreichtum zeigt, dass queeres Leben sich nicht nur in (Landes-)Hauptstädten wie Stuttgart abspielte, sondern die Geschichte der queeren Community auch in kleineren Städten wie Tübingen nachvollzogen werden kann – sobald man sich mit ihr beschäftigt.
Menschen mit von der Norm abweichender Sexualität und/oder Geschlechtsidentität sind in der Geschichtswissenschaft noch immer unterrepräsentiert. Alle sexuellen Praktiken, die nicht zur Zeugung führten, waren in der westlichen Hemisphäre für die allerlängste Zeit der Vergangenheit unter dem Begriff der Sodomie kriminalisiert (und sind es in vielen Teilen der Erde immer noch). Die Erforschung queerer Menschen der Vergangenheit ist ein schwieriges Unterfangen, das noch wenig in den Universitäten und Museen Deutschlands vorhanden ist. Tübingen hat hier 2017 mit einem Forschungsprojekt der Empirischen Kulturwissenschaften an der Universität eine Präzedenz geschaffen. In Zusammenarbeit mit Archiven und Bevölkerung wurde viel Quellenmaterial zu queerem Leben, Lieben und Kämpfen in und um Tübingen gesammelt. In der resultierenden Sonderausstellung im Stadtmuseum Tübingen wurden sowohl Orte queeren öffentlichen Lebens in Tübingen als auch die betreffenden Personen in den Zeitkontext eingebettet.
Verbotene Liebe
Persönliche Zeugnisse vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart illustrieren die jeweiligen Zeitumstände. Am Beginn der chronologisch angeordneten Ausstellung war ein Liebesbrief des 17-jährigen späteren Königs Karl von Württemberg vom 9. Oktober 1840 an seinen Kommilitonen Adolf Freiherr von Ow-Wachendorf zu lesen. Die zwei führten wohl während Karls Studienzeit in Tübingen eine Liebesbeziehung, die jedoch im Juni des darauffolgenden Jahres nach Karls Weggang nach Berlin zerfiel. Karls Homosexualität – das Wort kam erst einige Jahrzehnte später auf – war während seiner Regierungszeit als König von Württemberg weithin bekannt. Skandale verursachte er durch seine Beziehung zu dem US-amerikanischen Vorleser Charles Woodcock an seinem Hof während der 1880er-Jahre, die unter dem öffentlichen und politischen Druck vom Berliner Kaiserhof beendet werden musste.[1]
Zu seiner Regierungszeit wurde der Artikel 175 im Jahr 1871 in die Verfassung des Kaiserreiches aufgenommen, der männliche homosexuelle Handlungen kriminalisierte. Die Entwicklung dieses Gesetzes, seine Auswirkungen, den Kampf für die Abschaffung und gegen die Verurteilung während der bahnbrechenden 1920er mit Fokus auf Berlin als queerem Hotspot wurde in der Sonderausstellung in Zusammenarbeit mit der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld dargestellt. Dr. Hirschfeld war selbst homosexuell, der als Arzt und Sexualwissenschaftler das Institut für Sexualwissenschaften im Tierpark Berlin führte. Hier behandelte er Homosexuelle und transidente Menschen, kämpfte aber auch aktiv für die Akzeptanz von Homosexualität. Fast wäre 1929 die Abschaffung von Artikel 175 gelungen, doch stattdessen verschärften die Nationalsozialisten das Gesetz nur wenige Jahre später. Die rapide Wende von den vergleichsweise sehr offenen 1920er-Jahren in das nationalsozialistische Deutschland der 1930er und 40er Jahre führte zur Ermordung tausender Homosexueller (und solcher, von denen es auch nur vermutet wurde) in Konzentrationslagern. Im Gegensatz zu den Juden und Jüdinnen wurden diese allerdings von den Alliierten nicht befreit, sondern teilweise in andere Gefängnisse überführt.[2] Zur Identifikation dienten rosa Winkel an den Uniformen, die in der Ausstellung im Kontext der Farbgebung in KZs auf einer Tafel aufgeschlüsselt waren.
Wendepunkt
Über die Nachkriegszeit ging es hin zu einer Begriffserklärung queerer Terminologie, die sich auf regenbogenfarbenem Hintergrund über die komplette hintere Wand des einzelnen Raumes streckte. Geläufige Bezeichnungen der queeren Szene wurden so einem Publikum präsentiert, das bisher wenig Berührungen damit hatte. Tübingen rückte wieder mit Einzelbeispielen homosexueller Aktivistengruppen, Vereine, Clubs und Freundeskreise in den Fokus. Hierbei traten eine Reihe von Orten in der ganzen Stadt hervor, an denen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts heimlich queere Menschen trafen. Beispielsweise waren ab 1958 das Café Neckartor und 1969-1977 der Club „Salon der Hundert“ des gleichnamigen Vereins Treffpunkte queerer Menschen.[3] Dabei fallen Überschneidungen mit der Künstlerszene, Musik, alternativen Subkulturströmungen und feministischen Aktionen auf. Die HIV-Pandemie sowie Kämpfe für Anerkennung, Rechte und Akzeptanz während der 1960er bis 1980er Jahre wurden über Plakate zu queeren Events dokumentiert. Als aktuellste Entwicklung fanden der erste Tübinger CSD 1996 sowie die Diskussion um das umstrittene Transsexuellen-Gesetz ihren Platz. Eine Ecke für Feedback rundete die Ausstellung als Projekt für die Community ab: Diese Geschichte ist noch lange nicht abgeschlossen.
Nachleben und Bedeutung
Online können manche dieser individuellen Schicksale auf der Seite der Stadt Tübingen (externer Link) nachlesen. Die Texte wurden vom Historiker Karl-Heinz Steinle geschrieben, der auch neben dem Stadtarchiv-Leiter Udo Rauch die Projektentwicklung 2017 begleitete. Wie auch in der Ausstellung ergänzen hier Interviews die Erzählungen. So bleiben Teile der Projektarbeit online erhalten, nachdem die Ausstellung endete.
Der knappe Raum im Erdgeschoss des Tübinger Stadtmuseums wurde so gut genutzt, wie es nur irgend ging. Die Entwicklung vom 16. Jahrhundert bis in die Neuzeit wurde breit entfaltet und machte sowohl die großen Meilensteine genau wie individuelle Schicksale sichtbar. Die Arbeit sollte hier jedoch auf keinen Fall enden. Diese Geschichten zu erzählen, ist wichtig. Hier hat das Stadtmuseum mit der Ausstellung sowie verschiedener Stelen an Orten queerer Geschichte in ganz Tübingen einen soliden, empathischen Anfang gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass andere Städte und Universitäten nachziehen und auch in Tübingen die Erforschung und Ausstellung queerer Geschichte fortgesetzt und sichtbarer wird und es auch bleibt. Der Pride Month Juni ist nicht nur Protest und Party in einem, es geht um Sichtbarkeit – das ganze Jahr über.
Ein Beitrag von Sandra Höhn
Fußnoten
[1] Vgl.: Bogen, Uwe: Neue Beweise für die Homosexualität von König Karl: Stuttgart-Album über eine frühe Liebe, Stuttgarter Zeitung, 6.10.2021.
[2] Vgl.: ohne Autor. Homosexuelle nach 1945: Die Verfolgung geht weiter, Süddeutsche Zeitung, 26.01.2020.
[3] https://www.tuebingen.de/queer#/41719/31585, abgerufen am 31.05.2024.
Bilder:
*Das Plakat zur Ausstellung. (C) Stadtmuseum Tübingen.
**Orte queeren Lebens stadtweit auf einer Karte. (C) Stadtmuseum Tübingen.
Nachweise und weiterführende Informationen:
Bogen, Uwe: Neue Beweise für die Homosexualität von König Karl: Stuttgart-Album über eine frühe Liebe, Stuttgarter Zeitung, 06.10.2021. https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.stuttgart-album-ueber-eine-fruehe-liebe-neue-beweise-fuer-die-homosexualitaet-von-koenig-karl.53d3bfb5-e2a5-4915-82e0-8fde06f4f2dd.html (20.05.2024).
Ohne Autor. Homosexuelle nach 1945: Die Verfolgung geht weiter, Süddeutsche Zeitung, 26.01.2020, URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/landtag-osthofen-homosexuelle-nach-1945-die-verfolgung-geht-weiter-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200126-99-634866 (20.05.2024).
Ausstellungswebseiten
https://www.tuebingen.de/stadtmuseum/37387.html#/37389 (20.05.2024).
https://www.tuebingen.de/queer#/41719/31585 (31.05.2024).
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