Es ist das wohl wichtigste Gebäude der deutschen Demokratie: Der Reichstag in Berlin. Wer dem Gebäude aktuell einen Besuch abstatten möchte, hat es jedoch nicht leicht. Die Coronapandemie und nicht zuletzt auch die verschärften Sicherheitsmaßnahmen nach dem versuchten „Sturm“ auf das Parlamentsgebäude machen die Beschäftigung mit der Historie des Bauwerks immer wichtiger, aber zugleich auch unmöglich. Als Alternative zu dem unter Corona-Bedingungen nicht möglichen Besuch des Reichstags brachte NTV bereits 2020 eine kostenlose App auf den Markt, die mittels Augmented Reality den Reichstag als 3D-Modell ins eigene Wohnzimmer bringt. Gerade nach den jüngsten Angriffen auf die Demokratie in den USA und Deutschland ist der gesellschaftlich-historische Anspruch an solch einen interaktiven Rundgang nun umso höher. Ist die App nur ein „nettes Spielzeug“, oder bietet sie auch nachhaltige Lernimpulse und einen echten gesellschaftlichen und historischen Mehrwert?
Der erste Eindruck der App ist durchaus positiv. Nach einem kurzen Ladevorgang, bei dem bereits die ersten Schritte erklärt werden und sich eine prächtige Musikkulisse aufbaut, öffnet sich eine Kameraansicht und man wird aufgefordert, sich eine horizontale Oberfläche in der eigenen, realen Umgebung zu suchen. Sobald man eine gefunden hat und sie durch Klicken auf den entsprechenden Bodenbereich als Grundstücksfläche festlegt, erscheint das Reichstagsgebäude im handlichen Puppenhausformat auf dem Bildschirm?. Nun kann man sich mit Tablet oder Smartphone frei um das gesamte Gebäude herum bewegen und durch bereits angezeigte Schaltflächen auch Näheres zu den architektonischen Besonderheiten und der Geschichte des Gebäudes erfahren. Bevor man dabei auf die Schaltflächen klickt, wird einem nicht angezeigt, was sich dahinter verbirgt. Diese Information wurde vermutlich aus Platzgründen innerhalb der Smartphone- oder Tablet-Anwendung ausgeklammert. Die Sparmaßnahme hat aber auch einen positiven Effekt: sie steigert die eigenen Handlungsoptionen bei der Erkundung des Gebäudes.
Hinter den einfachen Schaltflächen stehen vor allem kurze Artikel mit prägnanten Bildern, wie zum Beispiel zu der ikonischen Photographie, die zwei Rotarmisten beim Hissen der sowjetischen Flagge auf dem Dach des Reichstags 1945 zeigt. Länger als dieser Satz sind aber auch die applikationsinternen Beschreibungen nicht. Auch werden Schaltflächen mit der Aufschrift „360°“ angezeigt, die eine nicht animierte, fotografische 360-Grad-Ansicht des aktuellen Standpunkts ermöglichen. Dadurch wird das Erkundungserlebnis immersiver und realer. Daneben stehen einige Video-Schaltflächen zur Verfügung und ermöglichen Einblicke in verschiedene historische Begebenheiten rund um das Gebäude. So zum Beispiel die Anfänge des Reichstags im Kaiserreich oder die künstlerische Verhüllung des Gebäudes durch Christo im Jahr 1995. Die Videos bedienen dabei ein sehr einfaches Niveau, das kaum hinterfragt und sich RTL-typisch[1] auf große Ereignisse und Personen stü(t/r)zt.
Mithilfe einer Toolleiste am unteren Bildschirmrand kann man während der gesamten virtuellen Besichtigung Screenshots vom aktuellen Standpunkt aus machen. Dies ist auch bei Verwendung einer smartphone-basierten AR-Brille möglich. Zudem lässt sich in der Toolleiste das Reichstags-Modell im Raum verlegen und um jeweils 80 Grad drehen, ohne dass der Nutzer den tatsächlichen Standpunkt wechseln muss. Am spektakulärsten: Hier lässt sich das Gebäude auch nach oben hin in drei Stockwerke aufklappen. Durch einfaches Hindurchbewegen in die Animation, kann man sich den Reichstag von innen ansehen und so auch den Bundestag erkunden. Hier ist die Animation in Teilen sehr einfach und es wird auch klar, dass sich außerhalb des Gebäudes mit Abstand am meisten interaktive Flächen befunden haben, was zugegebenermaßen etwas enttäuschend ist. Enttäuschend deshalb, weil das einzige Video im Innenraum – platziert am Rednerpult des Bundestags – den Titel „Die Ära Merkel“ trägt und über Merkels Werdegang aufklärt, nicht jedoch über die politisch-demokratische Arbeit, die insgesamt durch das Parlament als legislative Institution geleistet wird.
Im Großen und Ganzen bietet die App von NTV also hauptsächlich einen groben Überblick für all diejenigen, die das Gebäude noch nie gesehen haben und auch eine Besichtigung (unter den aktuellen Bedingungen) nicht in Betracht ziehen. Für den Schulunterricht ist sie eher ungeeignet, da für das Aufstellen des Reichstags viel Platz benötigt wird und jede*r Nutzer*in das Gebäude alleine erkunden muss – also Chaos im Klassenraum vorprogrammiert. Wenn überhaupt ist die App als Hausaufgabe oder bei Stationenarbeit zum Einstieg in die Thematik Reichstag geeignet. Denn sie macht zwar weder den politischen Prozess noch tiefere historische Zusammenhänge erlebbar, ermöglicht aber eine Nähe zum Ort des demokratischen Geschehens, die in Pandemiezeiten oftmals wegfällt. Die digitale Erkundung ist dadurch gerade für jüngere Schüler*innen anregend und weckt eventuell polit-historisches Interesse – vor allem also Eigenambitionen hin zu intensiveren Erkundungen der Reichstagsgeschichte. Denn nach rund 15 Minuten sind alle Funktionen erprobt und alle Videos, Texte und Eindrücke durchgeklickt. Insgesamt bleibt die App folglich: eine Anregung.
Ein Beitrag von Timo Mäule
Daten im Überblick
Name der App im App Store: „ntv AR – Der Reichstag“.
Name der App im Play Store: „Der Reichstag ntv“.
Die App steht ab iPhone 6S sowie für iPad 5, 6, mini, Air 3 und Pro (alle Modelle) zur Verfügung. Für Android-Geräte ab Android 7.0.
Bilder:
© NTV: „ntv AR – Der Reichstag“. All rights reserved. Screenshots aus journalistischem Interesse erstellt.
Fußnoten:
[1] NTV ist ein Teil der RTL-Group. Dadurch sind die journalistischen Ambitionen eng miteinander verknüpft.
Getestet mit einem iPhone XR, einem Lenovo Moto Z Play und einem iPad Pro A1701.
Infospalte
Aktuelle Kategorie:
… auch interessant:
Eine Stunde History: Geschichte, aber immer mit Bezug zur Gegenwart
Verwandte Themen:
Geschichtslernen digital
Folge uns auf Twitter:
Kommentar schreiben