Wie ging die Universität Tübingen mit ihrer NS-Vergangenheit um? Bastian Wades Buch „Vergangenheitspolitik im Hörsaal“ zeigt die Reaktion der Universitätsleitung auf studentische Forderungen nach Aufarbeitung in den 1960er-Jahren.
Tübingen, im Februar 1964: Während sonst die Ausgaben der Tübinger Studierendenzeitung notizen kaum Beachtung fanden, entbrannte nun eine regelrechte Jagd darauf: Die Titelseite der Februarausgabe zeigte die Fotografie eines Ölgemäldes, das der Psychiater Hermann Hoffmann (1891–1944) im Jahr 1937 von sich für die Rektorengalerie anfertigen ließ – eine SA-Uniform tragend, geschmückt mit allerhand Orden und der goldenen Amtskette der Tübinger Rektoren. Doch nicht nur die Titelseite, auch der Inhalt der Studierendenzeitung schlug hohe Wellen und elektrisierte die Tübinger Studierendenschaft. So berichtete Hermann Gremliza (1940–2019), Chefredakteur der notizen, in seinem Artikel „Die braune Universität: Tübingens unbewältigte Vergangenheit“ über die NS-Verstrickungen der Professoren Georg Eißer und Gustav Bebermeyer, die auch im Jahr 1964 noch zum Lehrkörper der Universität Tübingen zählten. Er erschien nur wenige Wochen nach Beginn des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses, der der deutschen Öffentlichkeit erstmals in dieser Form die im KZ Auschwitz begangenen Verbrechen drastisch vor Augen führte. Gremliza beschrieb der Tübinger Hochschulöffentlichkeit die unheilvolle Allianz, die die Tübinger Universität mit dem NS-Regime eingegangen war – und wie viele Nationalsozialisten ihre Karrieren nach der Zäsur von 1945 fortsetzen konnten. „So wird in Tübingen Vergangenheit bewältigt,“ kommentierte Gremliza mit bissigem Unterton und löste damit eine Reaktion aus, die die NS-Vergangenheit erstmals in die öffentlichen Debatten der Tübinger Hörsäle brachte.
Gremliza traf mit der 53. Ausgabe der notizen einen Nerv. Die Tübinger Studierendenschaft war bereits Mitte der 1960er Jahre stark politisiert, teilweise auch durch den Austausch mit ausländischen Studierenden, die Themen wie den Algerienkrieg oder die Apartheid in Südafrika in die schwäbische Provinz mitbrachten. Zwei Jahre zuvor hatte die Universität öffentliche Anschuldigungen hinsichtlich der Rolle von Juristen im Nationalsozialismus noch weitgehend geräuschlos abwenden können. Doch nun fiel Gremlizas Generalangriff auf die Universität auf fruchtbaren Boden. Eine eilig vom Tübinger AStA einberufene Vollversammlung der Studierenden im bis zum Bersten gefüllten Audimax zog hitzige Debatten nach sich. Die Mehrheit forderte Aufklärung von der Universität. Es war dies der Moment, in dem an deutschen Hochschulen – in Tübingen und darüber hinaus – der Schweigekonsens der Nachkriegszeit endgültig aufgekündigt wurde.
Diese plötzliche Konfrontation stellte die Universitätsleitung vor eine unangenehme Entscheidung. Würde sie tatsächlich Schuld eingestehen und die Verstrickungen einzelner Professoren benennen? Oder würde sie versuchen, das Bild der „unpolitischen Wissenschaft“ zu verteidigen und die Hochschule selbst als Opfer der Zeitumstände darzustellen?
Wie die Universitätsleitung reagierte und ob Tübingen tatsächlich den Weg zur Aufarbeitung beschritt, schildert Bastian Wade in seinem Buch „Vergangenheitspolitik im Hörsaal: Tübinger Wissenschaften und ihre Debatten um 1964/65“ (vgl. Abb. 2). Dabei wirft er zunächst einen Blick auf die Rolle der Universität Tübingen und Tübinger Wissenschaftler im Nationalsozialismus und macht damit deutlich, dass Gremlizas Anschuldigungen im Kern berechtigt waren. Warum dies in der unmittelbaren Nachkriegszeit geflissentlich ignoriert werden konnte, ist ebenfalls Gegenstand der Studie. Wo lange ein gesamtgesellschaftlicher Hang zum „kommunikativen Beschweigen“ (Hermann Lübbe) und hochschulpolitischer Pragmatismus überwogen, setzte schließlich ab Ende der 1950er Jahre ein vorsichtiger Wandel hin zu einer verstärkt kritischen Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auch an den Universitäten ein. Es bedurfte indes zusätzlich eines neuen, selbstbewussteren Rollenverständnisses der Studierenden, um die Vergangenheitspolitik schließlich auch zum Thema in den Hörsälen werden zu lassen. Mit einer akribischen Analyse der damaligen Debatten und Akteure zeigt Wade, warum dieser Aufbruch gerade in Tübingen begann, welche Voraussetzungen dafür notwendig waren und welche Grenzen der akademischen Aufarbeitung damals noch allzu deutlich wurden. Er bietet damit auch einen Blick auf eine bisher wenig beachtete Facette der deutschen Nachkriegsgeschichte.
Ein Beitrag von Bastian Wade
Weiterführende Informationen rund um das Buch:
Titel: Vergangenheitspolitik im Hörsaal. Tübinger Wissenschaften und ihre Debatten um 1964/65
Autor: Bastian Wade; er studierte Geschichtswissenschaft und Mathematik an der Eberhard Karls Universität Tübingen und der York University in Toronto. Er arbeitet für den »Arbeitskreis Universität Tübingen im Nationalsozialismus« und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit der Nachgeschichte des Nationalsozialismus.
Jahr: 2024
Umfang: 186 Seiten Monographie
Reihe: Moderne Geschichte und Politik, Band 30 (Verlag Peter Lang)
Link zu weiteren Informationen vom Verlag (z. B. Leseprobe, Inhaltsverzeichnis): https://www.peterlang.com/document/1488655 (15.11.2024) (externer Link)
Verfügbarkeit in Tübingen: Bibliothek des Seminars für Zeitgeschichte (Hegelbau, Präsenzbestand) sowie in der Universitätsbibliothek Tübingen (Handapparat Universitätsarchiv sowie Freihand-Ausleihbestand)
Bilder:
Abb. 1: Titelseite der NOTIZEN 53, Februar 1964. Fotografie: Bastian Wade.
Abb. 2: Bastian Wades Buch „Vergangenheitspolitik im Hörsaal. Tübinger Wissenschaften und ihre Debatten um 1964/65" (2024). Cover: (C) Verlag Peter Lang.
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