Platon – Leonardo da Vinci – Luther – Leibniz – Kant – Bismarck. Einer stört hier scheinbar die Ordnung: Was tut Otto von Bismarck unter Philosophen, ein deutscher Staatsmann neben Vordenkern der Menschheit? Diese sechs Männer repräsentieren am „Bonatzbau“ der Universitätsbibliothek Tübingen die abendländische Geistesgeschichte, 1912 in Muschelkalk verewigt.[1] Manchen mag es nun gelüsten, hier vorschnell kaiserzeitliche Selbstüberhöhung zu diagnostizieren. Doch Bismarcks Auftauchen ist mitnichten ein gewöhnliches Zeugnis deutschnationaler Verklärung. Vielmehr wurde der Reichskanzler klammheimlich in die Reihe hineingedrückt, wie uns die Akten erzählen.
Für das Dasein der Universitätsbibliothek war der Neubau 1912 ein unschätzbarer Fortschritt. Bis 1819 war sie in der Alten Aula untergebracht, danach in den entlegenen Mauern des Schlosses, die über die Jahre der wachsenden Menge an Schriften und Benutzenden immer weniger gewachsen waren.[2] Das erste eigene Bibliotheksgebäude[3] sollte neben einer bedarfsgerechten Bauweise auch eine neue Kartei anstelle des alten, 179-bändigen Kataloges ermöglichen.[4] Erstmals in der Geschichte deutscher Universitäten wurde mittels Ausschreibung ein Architekt in der freien Wirtschaft gesucht; den Zuschlag erhielt ein aufstrebender Professor von der Technischen Hochschule Stuttgart, Paul Bonatz. Ihn kennt man außerhalb Tübingens vor allem als Schöpfer des Stuttgarter Hauptbahnhofs.[5]
Seit 1905 waren die Planungen für den Bau konkret geworden, 1906 hatte man einen Bauplatz gesucht, 1909 den Bauplan abgesegnet und 1910 Bonatz unter Vertrag genommen.[6] Doch gerade ein Jahr vor der Einweihung, Ende 1911, flammten hitzige Diskussionen auf, nachdem Bonatz hatte anklingen lassen, die Fassade sollten traditionsgetreu Porträts berühmter Persönlichkeiten schmücken.[7] Mehrere Akteure rangen um Mitbestimmung.[8]
Der Sprecher der Bibliothekskommission, Siegfried Rietschel, schlug ein Ensemble aus Tübinger Berühmtheiten vor – und zwar „Männer des letzten Jahrhunderts, da unter den Lehrern der früheren Zeit (außer Melanchthon, der […] nicht als Professor hier wirkte) keiner sich befindet, dessen Name heute noch einen allgemein bekannten Klang hat"[9]. Nicht nur hatte Rietschel hier wohl einige Ältere übersehen[10]; obendrein erweist er sich als wenig weitsichtig – als hätte das 19. Jahrhundert einen bleibend hohen Rang in der Geschichte gepachtet. Der Künstler Ulfert Janssen wandte ein, dass er Personen in solcher zeitlicher Nähe kaum künstlerisch idealisieren könne – und dass es wohl an Bildvorlagen mangeln würde.[11]
Im Februar 1912 verwarf der Senat der Universität diese Idee abschließend und entschied sich für ein Tableau, das zur Hälfte aus Vertretern der Weltliteratur, zur Hälfte aus bedeutenden Wissenschaftlern bestehen sollte. Gegenüber der Endfassung waren in dem Votum noch Walther von der Vogelweide und Alexander von Humboldt enthalten.[12] Im April aber ließ dann Württembergs Kultminister Karl von Fleischhauer wissen: Ludwig Uhland dürfe keinesfalls fehlen – und ebenso wenig ein „Bild Bismarks [sic] als des grössten Staatsmanns der Neuzeit und Gründers des Deutschen Reichs, der dem Staatsrecht neue Bahnen gewiesen hat"[13]. Bonatz gab das Anliegen unkommentiert weiter; der Minister habe „die Einfügung von Uhland und Bismarck ausdrücklich gewünscht"[14].
Uhland war zur nämlichen Zeit wegen seines 50. Todestags in aller Munde und damit nur schwer zu übergehen.[15] Der einstige Reichskanzler Otto von Bismarck genoss zwar insbesondere seit seinem Tod 1898 wachsende Verehrung[16], allerdings in Württemberg noch auffällig wenig.[17] Somit kann zwar der Patriotismus des Ministers wohl einiges erklären, doch es gibt noch eine heißere Spur: Der damalige Oberbibliothekar Karl Geiger muss Paul Bonatz von Beginn an eine verfälschte Bestellliste vorgelegt haben, wie Kommissionspräsident Rietschel in einem Brief erklärte. Demnach hatte Bildhauer Janssen u. a. schon die Porträts von Uhland und Bismarck vorbereitet. „Wenn jetzt seitens des K[öniglichen] Ministeriums […] die Anbringung der Bilder von Uhland und Bismarck für geboten erachtet wird, so dürfte wohl die Tatsache, daß [sic!] für beide Bilder die Entwürfe vollendet sind, auf diese Entscheidung nicht ohne Einfluß [sic!] gewesen sein“[18], so Rietschel. Letztlich legte schlichtweg das knappe Budget nahe, Uhland und Bismarck nicht mehr zu streichen, auch gegen den Willen des Senats. Dieser hatte Bismarcks Auftauchen als „fraglich“ bezeichnet.[19] Ursächlich dürfte aber das verdeckte Spiel von Oberbibliothekar Geiger gewesen sein, der vielleicht sogar Freunde im Ministerium hatte[20] – in der Gesamtschau ein durchtriebenes, taktisches Manöver.
Doch Karl Geiger, dessen Sympathien gegenüber Bismarck kein Geheimnis waren[21], sollte dennoch nicht als verblendeter Nationalist abgestempelt werden. Vielmehr hatte er Bismarck wohl als bedeutende Geistesgröße präsentiert wissen wollen, nicht als Sinnbild eines überhöhten Deutschtums. Dies schließt an einen Diskurs an, der Bismarck als Versöhner von Geist und Tatkraft verstand, gar auf Augenhöhe mit Goethe.[22] Vorgesehen war nämlich, dass jede Kulturepoche mit einem Porträt vertreten sein sollte.[23] Doch für spezifische Kulturleistungen des 19. Jahrhunderts war vor dem Ersten Weltkrieg offenbar noch kein allgemeines Bewusstsein entstanden, so dass der Tübinger Historiker Ewald Frie die Wahl Bismarcks wesentlich in diesem Selbstfindungsprozess begründet sieht.[24] Die vom Senat gebilligte Porträtauswahl scheiterte somit an der modischen Bismarckverehrung und an der fehlenden Reflexion über das jüngste Jahrhundert, an finanzieller Sparsamkeit – und nicht zuletzt am strategischen Geschick von Bibliothekschef Karl Geiger.
Bei der Einweihung am 21. November 1912 war neben Vertretern des Königshauses insbesondere Kultminister von Fleischhauer zugegen[25], der offiziell für die Einwechslung Bismarcks gesorgt hatte. Den Tag beschloss ein Fackelzug der Studentenschaft[26], die sich schon Jahre zuvor zäh für den Bismarckturm auf dem Schlossberg eingesetzt hatte[27] und von dem neuen Konterfei des Kanzlers tiefbewegt gewesen sein dürfte.
1963 verlagerte sich das Bibliotheksgeschehen in das neuerrichtete Hauptgebäude; der Bonatzbau beherbergt seitdem hauptsächlich Magazine und besondere Einrichtungen.[28] Sein Ehrfurcht einflößendes Portal gehört indes zum Antlitz der Wilhelmstraße. Dass selbst der Schriftzug „Königliche Universitätsbibliothek“ nach der Monarchie noch erhalten blieb, ist dabei allein dem Umstand zu verdanken, dass man bei Streichung des Adjektivs eine unansehnliche Lücke befürchtet hätte.[29] Heute zeugen der verewigte Bismarck und seine steinernen Gefährten von einer nahen, wenngleich unnahbaren Zeit – und vom Identitätswandel der Universität.
Ein Beitrag von Johannes Thiede
Fußnoten:
[1] Knape 1.
[2] Setzler 20–23.
[3] Knape 1.
[4] Freeman 785.
[5] Setzler 30–32; Knape 1f.
[6] Setzler 26f., 34f.
[7] Setzler 35; Wildermuth 56f.
[8] Setzler 37f.
[9] Universitätsarchiv Tübingen 117/599, Bl. 128, zit. nach Setzler 38.
[10] Setzler 38.
[11] Setzler 39; Wildermuth 57.
[12] Setzler 39f.
[13] Universitätsarchiv Tübingen 117/599, Bl. 108, zit. nach Setzler 40.
[14] Brief Paul Bonatz’ an die Bibliothekskommission vom 22. April 1912, via https://uni-tuebingen.de/fileadmin/_processed_/e/a/csm_2_3-uat117_599_104s_46a5a5a230.jpg (Abruf 15. März 2020).
[15] Setzler 42.
[16] Frie 54f.
[17] Frie 64–66.
[18] Universitätsarchiv Tübingen 117/599, Bl. 103, zit. nach Setzler 43.
[19] Frie 67; Setzler 42f.
[20] Setzler 42.
[21] Setzler 42.
[22] Frie 62f.
[23] Frie 67.
[24] Frie 67f.
[25] ZfB 562.
[26] ZfB 563.
[27] Frie 65f.
[28] Freeman 785; Gebhardt 67f.
[29] Syré 89 Fn. 2.
Literatur
Freeman, Robert S.: University Library of Tübingen, in: Stam, David H. (Hg.): International Dictionary of Library Histories. Volume 1 & 2: Libraries: Ambrosiana Library & Zurich Central Library to National Library of Brazil & Canada, London 2015, 779–785.
Frie, Ewald: Bismarck – Der Politiker als Denkmal, in: Knape, Joachim/Schindling, Anton (Hgg.): Fassaden Botschaften. Zur Denkmalgeschichte und Programmatik der Tübinger Porträt-Galerie am Bonatzbau, Wiesbaden 2016, 51–71.
Gebhardt, Walter: Von der alten zur neuen Universitätsbibliothek Tübingen, in: Tübinger Blätter 50 (1963), 62–68.
Knape, Joachim: Zur Einführung: Paul Bonatz und Ulfert Janssen, in: Knape, Joachim/Schindling, Anton (Hgg.): Fassaden Botschaften. Zur Denkmalgeschichte und Programmatik der Tübinger Porträt-Galerie am Bonatzbau, Wiesbaden 2016, 1–17.
Setzler, Wilfried: Der Bonatzbau und die zwölf Köpfe von Dichtern und Denkern. Der Bau und sein Programm, in: Knape, Joachim/Schindling, Anton (Hgg.): Fassaden Botschaften. Zur Denkmalgeschichte und Programmatik der Tübinger Porträt-Galerie am Bonatzbau, Wiesbaden 2016, 18–48.
Syré, Ludger: Die Universitätsbibliothek Tübingen auf dem Weg ins 20. Jahrhundert. Die Amtszeit Karl Geigers (1895 – 1920), Tübingen 1986.
Wildermuth, Ralf Werner: Der Bonatzbau der Universitätsbibliothek Tübingen. Funktionelle Bibliotheksarchitektur am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, Tübingen 1985.
ZfB = Umschau und neue Nachrichten, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 29 (1912), 559–565.
Bilder (Lizenzen):
*Oberes Bild:
Kamahele (Synonym = Eberhard Hauff) / / CC BY-SA (https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)
Page URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tuebingen_UB-1405_001-a-Bismarck.jpg
File URL : https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/b/b6/Tuebingen_UB-1405_001-a-Bismarck.jpg
(zuletzt aufgerufen am 18.04.2020)
Erstes mittleres Bild:
Timo Mäule. All rights reserved.
**Zweites mittleres Bild:
Julius Wilhelm Hornung / CC0
Page URL:https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Karl_Geiger_.jpg
File URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/7a/Karl_Geiger_.jpg
(zuletzt aufgerufen am 20.03.2020)
***Unteres Bild:
Haus der Geschichte Baden-Württemberg, Sammlung Gebr. Metz, via https://uni-tuebingen.de/fileadmin/_processed_/4/e/csm_2_5_Einweihung_Studenten_LXV133_402_f41fc828d6.jpg (zuletzt aufgerufen am 20.03.2020), gemeinfrei.
Infospalte
Aktuelle Kategorie:
… auch interessant:
Tübinger Erinnerungspolitik - das Pogrom 1938
Verwandte Themen:
Smart? Lernen per App
Folge uns auf Twitter:
Kommentar schreiben