Am 25. April 1953 veröffentlichten die Molekularbiologen James D. Watson und Francis Crick einen Artikel, in dem sie als erste Aufbau und Funktion der DNA als Doppelhelix beschrieben. Entdeckt hatte die DNA als „Nuclein“ jedoch bereits 84 Jahre zuvor Friedrich Miescher (1844–1895) in der Schlossküche von Hohentübingen. Damit trug er ein bedeutendes Kapitel zur Geschichte der Universität Tübingen bei und blieb dennoch vergleichsweise unbekannt.
Das Labor in der Schlossküche
Wer heute das Schloss Hohentübingen besucht, findet an der südlichen Mauer des Innenhofes neben einer kleinen Treppe drei Steintafeln, die auf die große Bedeutung des Schlosses für die Tübinger Naturwissenschaften hinweisen. Sie erinnern an das Wirken Felix Hoppe-Seylers und die Entwicklung der physiologischen Chemie als Disziplin an der Universität, eine kleine Tafel weist zudem auf Mieschers Entdeckung hin (Abb. 1).
Nachdem das Schloss Hohentübingen 1816 an die Universität übertragen worden war, begann dort zunächst der Tübinger Chemiker und Arzt Georg Carl Ludwig Sigwart ab 1818 trotz schwerwiegender baulicher Mängel mit dem Aufbau eines Chemielabors. Sigwarts Nachfolger im Schlosslabor war Julius Eugen Schlossberger, der 1846 als außerplanmäßiger Professor für Chemie nach Tübingen berufen worden war. Sowohl Sigwart als auch Schlossberger trieben nicht nur die technischen Möglichkeiten des Schlosslabors voran, sondern waren auch Mitbegründer einer neuen Disziplin: der physiologischen Medizin beziehungsweise der Biochemie.[1]
1861 übernahm Felix Hoppe-Seyler das Labor am Schloss. Zur gleichen Zeit wurde innerhalb der Universität über die Zugehörigkeit der Naturwissenschaften, die noch den artes liberales sowie der Philosophischen Fakultät beigeordnet waren, gestritten. Nicht zuletzt angesichts der großen Fortschritte naturwissenschaftlicher Forschungen wurde 1863 die Gründung einer eigenständigen naturwissenschaftlichen Fakultät beschlossen, der fortan auch das Labor am Schloss angehörte.[2] Mit dieser Reorganisation ging auch eine bedeutende Etatsteigerung des Labors einher, in dem Hoppe-Seyler – in zunehmend engerer Zusammenarbeit mit der Tübinger Medizin – wegweisende Erkenntnisse in der Erforschung des von ihm Hämoglobin genannten roten Blutfarbstoffs gewann. Gleichzeitig begann Hoppe-Seyler unter dem Titel Medicinisch-chemische Untersuchungen. Aus dem Laboratorium für angewandte Chemie zu Tübingen die Ergebnisse des Labors selbst zu publizieren, wodurch er sich und sein Labor weiter aus der Abhängigkeit von Physiologie und Pathologie befreite.[3]
Mieschers Entdeckung der DNA und der lange Weg zur Doppelhelix
Nach dem Abschluss seines Medizinstudiums kam 1868 der Schweizer Friedrich Miescher (Abb. 2) mit dem Ziel, die Zusammensetzung von Zellen zu erforschen, als Wissenschaftler in Hoppe-Seylers Labor. Dabei kam ihm nicht zuletzt die organisatorische Nähe des Labors zur chirurgischen Klinik der Universität zugute, denn für seine Arbeit benötigte Miescher große Mengen reiner, das heißt nicht in Gewebe verwachsener, Zellen. Aus der Klinik bekam er alte eitrige Wundverbände geliefert, aus denen er die Eiterzellen auswusch und so seinen Bedarf decken konnte.[4] Nachdem er zunächst versucht hatte, einzelne Proteine aus den Zellen zu extrahieren, um deren Funktion nachzugehen, fokussierte er seine Arbeit schnell auf den Zellkern. Unter dem Mikroskop hatte 1682 bereits Antoni Philips van Leeuwenhoek Zellkerne gesehen; Robert Brown beschrieb sie 1831, also knapp 40 Jahre vor Miescher, als Nucleus.[5] Über das Wissen um ihre Existenz hinaus war über Zellkerne aber kaum etwas bekannt.
Den gesamten Aufbau seiner Versuche musste Miescher selbst entwickeln. Schon das Verfahren zum
Auswaschen des Eiters aus den Wundverbänden mit einer Glaubersalzlösung hatte er selbst erarbeitet.[6] Nach dem Auswaschen der Eiterzellen kochte Miescher die Zellen mit Alkohol und Wasser bei 60 Grad aus. In der Folge beobachtete er bei Hinzugabe von Salzsäure und anschließender
Verdünnung der Säure den Niederschlag einer Substanz, die sich grundlegend anders verhielt als
Proteine, von denen er wusste, dass sie die überwiegende Masse der Zellsubstanz bilden.[7] Anfang 1869 gelang es Miescher, eine neue Substanz, die er richtigerweise für die „Kernsubstanz“ hielt,
in Zellkernen festzustellen. Er nannte sie nach dem lateinischen Wort für Kern, nucleus, „Nuclein“. Mit Salzsäure und dem Verdauungsenzym Pepsin, das er aus Schweinemägen extrahierte, konnte Miescher die Zellen bei bis zu 45 Grad Celsius komplett zersetzen und so reines Nuclein komplett zersetzen und so reines Nuclein gewinnen.[8] In weiteren Untersuchungen bestimmte Miescher die Mengenanteile in der von ihm entdeckten Substanz. Dabei führte er den Nachweis, dass in Nuclein im Gegensatz zu Proteinen kein Schwefel, dafür aber eine hohe Phosphorkonzentration enthalten ist, was ihm später erlaubte, den Zellkern auf Basis seiner chemischen Zusammensetzung zu beschreiben.[9] Bereits 1869 verließ Miescher Tübingen wieder. Ihm gelang in weiteren Untersuchungen der Nachweis von Nuclein in Spermien verschiedener Wirbeltiere, woraus er ableitete, dass das Nuclein entscheidend für die Befruchtung sein könne. Außerdem konnte er nachweisen, dass die Nucleinmenge in sich teilenden Zellen größer ist als in ruhenden Zellen.[10]
Miescher hatte mit dem Nuclein die DNA, die ihren Namen, Desoxyribonukleinsäure, nicht zuletzt ihm verdankt, entdeckt, konnte den endgültigen Beweis dafür, dass die DNA die Trägerin der Erbinformation ist, aber nicht führen. Das gelang erst 75 Jahre später im Jahr 1944 Oswald Avery, Colin MacLeod und Maclyn McCarty. In einem Experiment mit verschiedenen Stämmen von Pneumokokken konnten sie zeigen, dass die Substanz in Zellen, die für die Weitergabe der Erbinformation zuständig ist, die gleichen Mengenanteile aufweist wie die DNA; also musste die DNA die Trägerin der Erbinformation sein.[11] Bis zur Entschlüsselung der DNA als Doppelhelix vergingen dann nur noch neun Jahre.[12]
Vergessene Geschichte: Warum Miescher so unbekannt ist
„Aufgrund ihrer fundamentalen Bedeutung für das Leben ist die DNA zu der Ikone der Lebenswissenschaften geworden. Umso erstaunlicher ist es, dass kaum einer den Entdecker der DNA kennt.“[13] Für Mieschers vergleichsweise geringe Bekanntheit gibt es keine abschließende Erklärung, jedoch werden in der Forschungsliteratur mehrere mögliche Gründe diskutiert. Ein Grund könnte sein, dass Miescher seiner Zeit zu weit voraus gewesen ist. Als er die DNA entdeckte, gingen seine Kollegen noch davon aus, dass Proteine die Träger der Erbinformation seien, eine Theorie, die erst 1944 widerlegt werden konnte. Miescher konnte die DNA zwar chemisch beschreiben, nicht aber ihre Struktur oder genaue Funktion erklären, sodass seine Entdeckung relativ vage und einer breiteren Rezeption vorenthalten blieb. Watson und Crick hingegen legten mit der Doppelhelix ein anschauliches – und damit auch kulturell viel breiter rezipierbares – Modell vor, mit dem sie eine Antwort auf die elementare Frage lieferten, wie „das Leben“ funktioniert.[14]
Hinzu kommen zweitens die naturwissenschaftlichen Wissensstände, auf die die Entdeckungen Mieschers und Watson/Cricks trafen. Miescher hob mit seiner Beschreibung des Nucleins gleichsam die naturwissenschaftliche Welt aus den Angeln, indem er eine völlig neuartige Substanz beschrieb, deren Eigenschaften allem widersprachen, was seinerzeit über die Vermehrung von Zellen angenommen wurde. Die Entschlüsselung der Doppelhelix war dagegen der letzte große und entscheidende Schritt nach dem Durchbruch Averys, MacLeods und McCartys 1944 und dadurch von der Wissenschaft eher antizipiert worden.[15]
Ein dritter Grund für Mieschers geringe Bekanntheit könnte in seiner Arbeitsweise begründet sein. Miescher publizierte außerordentlich zögerlich und wenig; sein entscheidender Aufsatz über die Entdeckung des Nucleins erschien erst zwei Jahre nach der Entdeckung und einer mehrfachen Überprüfung der Ergebnisse. Zudem interagierte Miescher kaum mit Kollegen und hatte stets nur eine sehr kleine Zahl von Studenten um sich. Watson und Crick verstanden es dagegen, ihre Erkenntnisse auch einer großen Öffentlichkeit zu präsentieren. Als Entdecker der Doppelhelix verarbeiteten sie ihre wissenschaftlichen Karrieren auch in Vorträgen und autobiographischen Texten.[16]
Friedrich Mieschers Entdeckung der DNA in der Schlossküche von Tübingen ist als bahnbrechende wissenschaftliche Erkenntnis sowohl für die Geschichte der Universität Tübingen als auch für die Geschichte der Biochemie von herausragender Bedeutung. Diese doppelte Bedeutung zeigt sich heute ganz besonders in dem Museumsraum, den das Museum der Universität Tübingen (MUT) in der Schlossküche eingerichtet hat, aus der das Labor 1886 in das neu errichtete, chemische Institut umgezogen ist.[17] Das kleine Museum bietet neben einem Eindruck von Mieschers Arbeit und der Laborarbeit im 19. Jahrhundert auch einen Einblick in die moderne biochemische Forschung. Zu den herausragenden Exponaten zählt unter anderem ein Reagenzglas mit Nuclein, das Miescher 1871 aus Lachssperma gewonnen hat (Abb. 4).
Weiterführende Informationen zum Besuch:
MUT - Museum der Universität Tübingen
- Adresse: Schloss Hohentübingen | Burgsteige 11 | 72070 Tübingen
- Öffnungszeiten: Mi bis So: 10 bis 17 Uhr, Do: 10 bis 19 Uhr. An Feiertagen ist das Museum in der Regel wie an Sonntagen geöffnet.
- Eintritt: Erwachsene: 5 € | Ermäßigt (Kinder, Schüler:innen, Studierende, Rentner:innen, Schwerbehinderte): 3 € | Familienkarte: 12 € | Tübinger
Studierende: frei
- Website Besucherinformation: https://www.unimuseum.uni-tuebingen.de/de/meta/besuchen (04.11.2024).
Fußnoten:
[1] Vgl. Michael Weiß: Das Tübinger Schloß. Von der Kriegsfeste zum Kulturbau, Tübingen 1996, S. 65f.
[2] Vgl. Ebd., S. 67.
[3] Vgl. Peter Bohley: Das Schloßlabor in der Küche von Hohentübingen. Wiege der Biochemie, Tübingen 2009, S. 26–29.
[4] Vgl. Andreas Theß, Ralf Dahm: Die Schlossküche, in der die DNA entdeckt wurde, in: Biologie unserer Zeit 50 (2020) 4, S. 289–290.
[5] Vgl. Bohley: Das Schloßlabor in der Küche von Hohentübingen, S. 42.
[6] Vgl. Friedrich Miescher: Ueber die chemische Zusammensetzung der Eiterzellen. Publicirt in Hoppe-Seyler’s medicinisch-chemischen Untersuchungen. Heft IV. 1871, S. 3–23, S. 4.
[7] Vgl. Ebd., S. 5.
[8] Vgl. Ebd., S. 14–22.
[9] Vgl. Theß, Dahm: Die Schlossküche, in der die DNA entdeckt wurde, S. 289.
[10] Vgl. Ebd., S. 289.
[11] Vgl. Ralf Dahm: Friedrich Miescher and the discovery of DNA, in: Developmental Biology 278 (2005), S. 274–288, S. 283.
[12] Vgl. Andreas Theß, Ralf Dahm: F. Mieschers Entdeckung der DNA – unbekannter Meilenstein der Biochemie, in: BIOspektrum 25 (2019) 7, S. 793–794.
[13] Ebd., S. 793.
[14] Vgl. Vgl. Ralf Dahm, Mita Banjeree: How We Forgot Who Discovered DNA: Why It Matters How You Communicate Your Results, in: BioEssays 41 (2019) 4, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/bies.201900029 (30.10.2024); Theß, Dahm: F. Mieschers Entdeckung der DNA, S. 793.
[15] Vgl. Dahm, Banjeree: How We Forgot Who Discovered DNA.
[16] Vgl. Ebd., S 794.
[17] Vgl. Weiß: Das Tübinger Schloß, S. 67.
Bilder:
Abb. 1: Gedenktafeln im Schlossinnenhof. Bild: Bernhard Schnabel.
*Abb. 2: Friedrich Miescher. Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfrei. URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Friedrich_Miescher.jpg (04.11.2024).
Abb. 3: Nebenraum des Schlosslabors. Bild: (C) Museum der Universität Tübingen MUT. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.
**Abb. 4: Historische Probe mit DNA, die Miescher aus Lachssperma isolierte, ausgestellt im MUT. Quelle: Museum der Universität Tübingen MUT. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.
Nachweise:
Dahm, Ralf: Friedrich Miescher and the discovery of DNA, in: Developmental Biology 278 (2005), S. 274–288.
Dahm, Ralf, Banjeree, Mita: How We Forgot Who Discovered DNA: Why It Matters How You Communicate Your Results, in: BioEssays 41 (2019) 4, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/bies.201900029 (30.10.2024).
Bohley, Peter: Das Schloßlabor in der Küche von Hohentübingen. Wiege der Biochemie, Tübingen 2009, S. 26–29.
Miescher, Friedrich: Ueber die chemische Zusammensetzung der Eiterzellen. Publicirt in Hoppe-Seyler’s medicinisch-chemischen Untersuchungen. Heft IV. 1871, S. 3–23, https://static-content.springer.com/esm/art%3A10.1007%2Fs00439-007-0433-0/MediaObjects/439_2007_433_MOESM2_ESM.pdf (28.10.2024).
Theß, Andreas, Dahm, Rolf: F. Mieschers Entdeckung der DNA – unbekannter Meilenstein der Biochemie, in: BIOspektrum 25 (2019) 7, S. 793–794.
Theß, Andreas, Dahm, Rolf: Die Schlossküche, in der die DNA entdeckt wurde, in: Biologie unserer Zeit 50 (2020) 4, S. 289–290.
Weiß, Michael: Das Tübinger Schloß. Von der Kriegsfeste zum Kulturbau, Tübingen 1996.
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