Jedes Jahr am 09. November wird in Deutschland an die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung im Rahmen der Pogrome von 1938 gedacht. Auch die Synagoge in Tübingen wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November zerstört (Link zum Beitrag). In Tübingen wie in Deutschland bildet die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus einen zentralen Teil der Geschichtskultur. Der Appell dabei lautet, dass die Erfahrungen und Erinnerungen der Opfer des Nationalsozialismus niemals in Vergessenheit geraten dürfen – sie sind ein Mahnmal dafür, wozu Menschen in der Lage sein können. Aus dem geschichtlichen Erbe der Bundesrepublik erwächst die Verantwortung, zu erinnern und zu gedenken.
Welche Erinnerungen stehen heute in Tübingen im Mittelpunkt des Gedenkens und wie wird dieses Erinnern umgesetzt? Bis in die 1990er Jahre hinein zeugten in der Universitätsstadt kaum Spuren von der nationalsozialistischen Vergangenheit der Stadt, obwohl die Eberhard Karls Universität schon vor 1933 als eine regionale Hochburg der NSDAP galt.[1] Das änderte sich Stück für Stück, nachdem sich eine Gruppe engagierter Menschen aus der „Geschichtswerkstatt e. V. Tübingen“ zusammen mit dem Arbeitskreis „Universität im Nationalsozialismus Tübingen“ für eine Gedenkstätte in Tübingen einsetzte. Zunächst wurde einen Rundgang geplant, der an die deutsch-jüdische Geschichte in Tübingen erinnern sollte. Einer der neuesten Gedenkorte in Tübingen ist der Geschichtspfad, der am 8. Mai im Jahr 2016 eingeweiht wurde.[2] Er besteht aus 16 verschiedenen Informationstafeln, die im und um das Stadtzentrum verteilt sind und Besucher*innen über die Geschichte des jeweiligen Ortes aufklären.
In der Darstellung des nationalsozialistischen Tübingens war den Initiator*innen vor allem die Perspektive der Opfer wichtig. Dabei werden neben den Schicksalen von bestimmten Gruppen, wie das der Zwangsarbeiter*innen, der Tübinger Jüdinnen und Juden oder der Zwangssterilisierten, auch viele Lebensläufe von einzelnen Individuen aufgezeigt.
Auf der vierten Stele sehen die Besucher*innen zum Beispiel ein Foto der Familie Schäfer aus dem Jahr 1929: Selma und Albert Schäfer mit ihren Töchtern Hertha und Liselotte. Der jüdische Albert Schäfer musste 1939 im Zuge der „Arisierung“ sein Modegeschäft abtreten, welches er mit seinem Kollegen jahrelang geführt hatte. Er starb 1941 an den Folgen seiner Haft im Konzentrationslager, seine Frau Selma wurde noch im gleichen Jahr deportiert und in Riga ermordet. Ihre Töchter konnten sich in die Vereinigten Staaten und ins damalige Palästina flüchten.
Auch die Seite der Täter*innen taucht im Geschichtspfad auf. Neben der Geschichte einzelner Individuen geht es auch darum, die institutionelle Beteiligung in Tübingen an den Verbrechen des Nationalsozialismus aufzuzeigen: so zum Beispiel des Polizeiapparates, der universitären Forschungseinrichtungen, der Kliniken und der Kreisleitung der NSDAP.
Die zehnte Stele des Geschichtspfades an der Neuen Aula in Tübingen beschäftigt sich mit der Universität Tübingen im Nationalsozialismus. Sie berichtet unter anderem von Martin Sandberger (1911-2010), der hier von 1931 bis 1933 Jura studierte. Sandberger war ab 1933 Hochschulgruppenführer des NS-Studentenbundes, und erklomm später die Karriereleiter innerhalb der SS. Als Leiter des Einsatzkommandos 1a hatte er zwischen 1941/1942 die Erschießung von 921 Jüdinnen und Juden in Estland zu verantworten. Sandberger ist auf einem Bild als Angeklagter beim Nürnberger Prozess gegen die Einsatzgruppen im Jahre 1948 zu sehen.
An einzelnen Stationen wird auch das Alltagsleben in der Stadt in der Zeit des Nationalsozialismus dargestellt. Auf der elften Tafel können Besucher*innen ein Bild eines SA-Aufmarsches 1933 am Lustnauer Tor betrachten, die Hände der Menschen zum Hitlergruß erhoben. Anhand der Bilder wird deutlich, wie sehr die menschenfeindliche Ideologie in Tübingen täglich präsent war, angenommen und unterstützt wurde.
Auch wenn die 16 Stelen nummeriert sind, steht jede Tafel für sich allein und kann jeweils isoliert von den anderen besichtigt werden. Sie müssen ebenfalls nicht in der Reihenfolge ihrer Nummerierungen besichtigt werden. Im Geschichtspfad wird kein bestimmtes, zusammenhängendes Narrativ aufgebaut. Vielmehr stoßen Besucher*innen auf fragmentierte Spuren des Nationalsozialismus an historischen Orten in Tübingen.
Egal ob Tübinger*in oder nur Tourist*in: Dieser historische Spaziergang durch die Stadt lohnt sich das ganze Jahr über. Doch vielleicht bietet der Tag des Gedenkens am 9. November einen besonderen Anlass, sich eingehender mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Tübingens zu beschäftigen. Denn in der Hoffnung, dass das, was man nicht vergisst, sich auch nicht wiederholen wird, bleibt die Erinnerung an diese Zeit ein zentraler Teil der Geschichtskultur der Stadt.
Ein Beitrag von Kostas Araptzis
Weiterführende Literatur (externe Links, letzter Zugriff am 09.11.2020):
Stadtrundgänge in Tübingen, dabei eine umfassende Darstellung des Geschichtspfads: https://www.tuebingen.de/19.html#/16694/16735
Wiesing, Urban u.a.: Die Universität Tübingen im Nationalsozialismus, Stuttgart 2012.
Schönhagen, Benigna: Universität und Stadt Tübingen im Nationalsozialismus, Tübingen 2005.
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