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Ein Stolperstein für Gomaringen: Vergangenheitsbewältigung auf dem Dorf

Bild: Marc-Ari Bittner.
Bild: Marc-Ari Bittner.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit auf lokaler Ebene ist nicht gerade selbstverständlich. Sogar im Kontext von Nationalsozialismus und Shoa gestalteten sich Aufarbeitungsprozesse kompliziert. Während mittelgroße bis größere Städte in Deutschland aufwendige Aufarbeitungs- und Recherchearbeit leisten und ihre Bürger*innen erinnerungskulturelle Projekte initiieren, blieben kleinere Dörfer und Ortschaften lange unberührt. Sie schienen von geringerem historischen Interesse zu sein. Ganz im Gegensatz zu Tübingen beispielsweise, wo es seit Anfang der 2000er Jahre eine Reihe an Kooperationen, Arbeitskreisen, Publikationen und Ausstellungen gegeben hat, eigens für diesen Zweck (Beitrag: Neue Stolpersteine in Tübingen). Doch auch schon Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre erschienen richtungsweisende Publikationen (z.B. das inzwischen als Standardwerk geltende „Tübingen unterm Hakenkreuz. Eine Universitätsstadt in der Zeit des Nationalsozialismus“ (1991) von Benigna Schönhagen) und daraus folgende Ausstellungen.[1] Dennoch sind es die scheinbar kleinen Initiativen, die die Erinnerungskultur auf der Dorfebene beleben oder eben Aktionen wie die „Stolpersteine“, welche seit über zwei Jahrzehnten einen wichtigen Beitrag zum Gedenken an die Opfer der Shoa leisten. So auch in Gomaringen, einem kleinen Ort im Landkreis Tübingen.

 

„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“ Dieses Zitat ist nicht nur ein Abschnitt des jüdischen Talmuds, sondern auch die Prämisse, nach der der Künstler Gunter Demnig arbeitet. In nun 25 Jahren verlegte Demnig über 73.000 Messingsteine, die längst über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus als „Stolpersteine“ bekannt geworden sind. In jene Messingsteine sind jeweils der Name der verfolgten Person eingemeißelt, sowie deren Geburtsjahr, das Schicksal der Person und, soweit dies der Fall ist, das Todesdatum. Das Langzeitprojekt des Kölner Künstlers soll mahnen und dem Vergessen der über sechs Millionen jüdischen Verfolgten, Deportierten und Ermordeten durch die Nationalsozialisten vor über 75 Jahren gezielt entgegenwirken.[2]

 

Die unfassbare Zahl der ermordeten Menschen jüdischen Glaubens sei, so Demnig „viel zu abstrakt“ um sich darunter etwas vorstellen zu können.[3] Darum ist das Ziel des Künstlers klar: Gerade die jüngere Generation soll mit eigenen Augen sehen, dass es „hier bei mir auf dem Dorf vor unserer Haustür, in meiner eigenen Straße“[4] begonnen hat. Erst dann werde die Geschichte konkret und bekommt damit einen persönlichen Bezug. Diese Art der Vergangenheitsbewältigung soll den Namenlosen ihre Namen zurückgeben und an sie erinnern.[5]

 

Bild: Marc-Ari Bittner.
Bild: Marc-Ari Bittner.

Einer dieser Namen ist Sally Adamsohn aus Gomaringen. Geboren in Landeck im damaligen Westpreußen ließ sich der damals 38-jährige Adamsohn 1901 im beschaulichen Dorf Gomaringen bei Tübingen nieder. Es wird angenommen, dass Adamsohn sich aufgrund von Diskriminierungen in seiner Heimat in Westpreußen gezwungen sah in Richtung Süddeutschland zu fliehen. Adamsohn galt in seiner neuen Heimat als beliebter Bürger. Als engagierter und hilfsbereiter Mediziner war er stets ein gern gesehener Gast bei Dorffestlichkeiten. Ab 1933 sollte sich das jäh ändern. Ein Großteil der Dorfgemeinschaft beugte sich der nationalsozialistischen Ausgrenzungskampagne oder wurde sogar ein Teil davon. Der einst so beliebte Adamsohn fand sich in sozialer Isolation wieder. Nur wenige hielten ab 1933 den Kontakt zu dem inzwischen pensionierten Mediziner. Sein Schicksal endete mit der Deportation ins KZ Theresienstadt am 22. August 1942, wo Sally Adamsohn völlig entkräftet kurz nach seiner Ankunft im Lager verstarb. Als freundlicher Ortsarzt mit Hut und Schirm, welcher armen Patienten oftmals kein Honorar berechnete, blieb er jedoch im kollektiven Gedächtnis der Ortsgemeinde erhalten.[6] 

Heute erinnert unter anderem ein zentraler Platz im Neubaugebiet Woltersäcker II an den Gomaringer Arzt, welcher 1994 nach ihm benannt wurde. Doch insgesamt gestaltete es sich Mitte der 1990er Jahre recht kompliziert, das Andenken an den jüdischen Mediziner öffentlich zu machen. Die einen wollten „was begraben“, während die anderen „erinnern und mahnen wollten“[7], so Kreisarchivar Wolfgang Sannwald, der seit vielen Jahren aktiv zur Erinnerungskultur in Gomaringen beiträgt. Der Honorarprofessor für Empirische Kulturwissenschaft ist seit vielen Jahren die treibende Kraft in der Landeskunde im Kreis Tübingen. Die Ursprünge des Gedenkens in Gomaringen liegen jedoch bereits im Jahr 1986. Auf Initiative zweier Dorfbürger, darunter auch Wolfgang Sannwald, entstand im Heimatbuch der Gemeinde ein eigenes Kapitel über den Arzt Adamsohn. Die Errichtung eines Mahnmals im Schlosshof von Gomaringen sei 1996 dennoch von großen Diskussionen im Gemeinderat begleitet gewesen und auch vielfach kritisiert worden. Die Vergangenheit sollte ruhen.[8]

 

Heute jedoch, 25 Jahre später, ist es anders. Inzwischen hat sich eine lebendige und agile Erinnerungskultur im Dorf etabliert, die die Themen Nationalsozialismus und Shoa auf der lokalen Ebene nicht ausspart. Die Initiativen werden insgesamt vom Engagement der Gomaringer*innen begleitet, sowie von großer Unterstützung der Landesebene. Die Bereitschaft zur Erinnerung an den Nationalsozialismus scheint sogar größer denn je: Regelmäßige Dauerausstellungen im Gomaringer Schloss, welche immer wieder inhaltlich ergänzt werden, erinnern an Ausgrenzung, Entrechtung und auch an Sally Adamsohn, den jüdischen Ortsarzt. Jugendguides begleiteten vor zwei Jahren rund 60 Interessierte durch den Ort auf den Spuren Adamsohns und schließlich wurde aus privater Initiative Gomaringer Bürger*innen der Stolperstein zu Ehren desselben verlegt. Dieses Mal jedoch mit breiter Zustimmung und Unterstützung des Gemeinderats. Am 30. März 2019 fand schließlich die Verlegung, durchgeführt vom Künstler Gunter Demnig selbst, statt. Mit regem Interesse der Dorfgemeinschaft wurde der Zeremonie beigewohnt und dem tragischen Schicksal des Gomaringer Mitbürgers Sally Adamsohn öffentlich gedacht.[9]

 

Die Stolpersteinaktion 2019 wurde dabei zu einem wertvollen Beitrag zur Erinnerungskultur und Vergangenheitsbewältigung in Gomaringen. Und damit scheint auch die Idee des Künstlers Demnig heute Früchte zu tragen. Der Name Sally Adamsohn ist nicht vergessen.

 

Ein Beitrag von Marc-Ari Bittner


Fußnoten:

[1] Martin Ulmer u.a.: Forschungsbereich Forschungsstand, in: https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/bereiche/forschungsstand (zuletzt aufgerufen: 17.01.2022).

[2] vgl. offizielle Webseite der Initiative „Stolpersteine“ von Gunter Demnig, http://www.stolpersteine.eu (zuletzt aufgerufen: 10.08.2021).

[3] Suzanne Cords: Stolpersteine sind sein Lebenswerk –Gunter Demnig zum 70. in: https://www.dw.com/de/stolpersteine-sind-sein-lebenswerk-gunter-demnig-zum-70/a-41091106 (zuletzt aufgerufen: 10.08.2021).

[4] Ebd.

[5] Ebd.

[6] vgl. Biografie von Sally Adamsohn, https://www.leo-bw.de/detail/- /Detail/details/PERSON/kgl_biographien/1012565823/Adamsohn+Sally s.o. (zuletzt aufgerufen: 10.08.2021).

[7]  Irmgard Walderich: Stolperstein für ermordeten jüdischen Arzt aus Gomaringen, in: https://www.gea.de/neckar-alb/kreis- tuebingen_artikel,-stolperstein-fürermordeten-jüdischen-arzt-aus-gomaringen-arid,6131640.html s.o. (zuletzt aufgerufen: 10.08.2021).

[8] vgl. Ebd. (zuletzt aufgerufen: 17.01.2022).

[9]  vgl. Ebd. (zuletzt aufgerufen: 17.01.2022).


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