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„Die Erinnerung ist eine Pflicht gegenüber den Toten“: Der jüdische Friedhof in Wankheim


Jüdischer Friedhof in Wankheim, Bild: Sarah Huber.
Jüdischer Friedhof in Wankheim, Bild: Sarah Huber.

Es ist still, nur leise ist in der Ferne das Rauschen der Autos auf der B28 zu vernehmen. Inmitten von alten Bäumen und Sträuchern liegt hier, zwischen den Gemeinden Kusterdingen und Wankheim, der alte jüdische Friedhof, auf dem Menschen aus Wankheim, aber auch Tübingen und Reutlingen, ihre letzte Ruhestätte gefunden haben. 137 Grabsteine, die inzwischen zum Teil stark verwittert sind, zeugen heute noch von jüdisch-schwäbischem Leben im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Ein 1947 errichtetes Mahnmal, das von Victor Marx, einem der beiden Tübinger Juden, die Deportation und Konzentrationslager überlebten, in Auftrag gegeben wurde, erinnert daran, welche Verantwortung wir gegenüber den Toten haben.[1]

 

Bestattung im Judentum

Ein Friedhof wird im Hebräischen als bet ha-chahim (Haus des Lebens) oder als bet olam (Haus der Ewigkeit) bezeichnet, er ist als ein ‚guter Ort‘ (makom tow) zu verstehen.[2] Jüdische Grabstätten werden nicht nach einer bestimmten Zeitspanne aufgelöst, sondern gelten auf ewig als unverletzlich.[3] Es ist ein jüdischer Brauch bei einem Besuch am Grab Steine abzulegen, um so den Verstorbenen zu gedenken. Pflanzen wären vergänglich, während Steine der Ewigkeit am nächsten kommen.[4]

  

Grabstätte von Leopold Hirsch, Bild: Harald Schwaderer, Verein für jüdische Kultur in Tübingen.
Grabstätte von Leopold Hirsch, Bild: Harald Schwaderer, Verein für jüdische Kultur in Tübingen.

Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wankheim

Mit der Gründung der Universität Tübingen im Jahr 1477 wurden die in Tübingen ansässigen Jüd*innen ausgewiesen. In den folgenden Jahren kam es im Herzogtum Württemberg und der Reichsstadt Reutlingen zu ähnlichen Vorgängen.[5] Diese verursachten eine neue jüdische Siedlungsstruktur, die so genannten ‚Judendörfer‘, in der nicht Städte, sondern Dörfer im nicht württembergischen ‚Ausland‘ die Zentren des jüdischen Lebens bildeten.  

 

Im Jahr 1774 genehmigten die Freiherren von Saint-André die Gründung einer jüdischen Gemeinde in Wankheim. Für ein jährliches ‚Schutzgeld‘ in Höhe von zwölf Gulden siedelten sich zunächst vier jüdische Männer in dem Dorf an.[6] Im gleichen Jahr wurde der Friedhof der Gemeinde gegründet. Durch die napoleonischen Gebietsreformen wurden die Wankheimer Jüd*innen 1806 Untertanen des württembergischen Königs. In der neuen Struktur kam es zu mehr wirtschaftlicher Freiheit und Emanzipation der Jüd*innen. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten um die 100 Menschen jüdischen Glaubens in Wankheim,[7] doch immer mehr zogen aus den Landgemeinden in größere Städte. Die volle rechtliche Gleichstellung erfolgte in Württemberg allerdings erst 1864.[8]

 

Leopold Hirsch, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde Wankheim, musste sich um 1850 sein Bürger- und Wohnrecht für Tübingen vor Gericht erst noch jahrelang erstreiten, bevor er 1855 mit seiner Familie in sein Tübinger Geschäfts- und Wohnhaus ziehen konnte. Immer mehr jüdische Bürger*innen Wankheims ergriffen die neuen Möglichkeiten und zogen nach Tübingen, Reutlingen, oder in andere größere Städte, die ihnen mehr Perspektiven bieten konnten. 1882 löste sich die jüdische Gemeinde Wankheim schließlich auf – im gleichen Jahr wurde in der Gartenstraße in Tübingen eine kleine Synagoge erbaut.[9] Im Jahr 1887 verließ schließlich die letzte Jüdin Wankheim[10]. Der Friedhof in Wankheim wurde jedoch weiterhin von der jüdischen Gemeinde Tübingen/Reutlingen genutzt.

 

Der jüdische Friedhof Wankheim/Tübingen

Selbst die kleinste jüdische Gemeinde ist dazu verpflichtet, einen Friedhof anzulegen, um ihre Toten angemessen bestatten zu können. Die Anlage eines Friedhofs besitzt sogar Vorrang vor der Errichtung einer Synagoge.[11] Von 1789 bis 1941 wurden Menschen jüdischen Glaubens auf dem Friedhof in Wankheim bestattet. 1774 war das Gelände zwischen Kusterdingen und Wankheim zunächst gepachtet worden. Der älteste noch erhaltene Grabstein stammt aus dem Jahr 1789.[12]

 

Da die Totenruhe im Judentum von großer Bedeutung ist, bemühte sich die jüdische Gemeinde in Wankheim ab 1843 um den Kauf des Geländes. Es kam zu Auseinandersetzungen mit der politischen Gemeinde, vordergründig um den Kaufpreis, doch hintergründig zeigten sich in der Auseinandersetzung auch grundsätzliche Vorurteile. Auf Druck der übergeordneten Behörde, des Oberamtes Tübingen, kam es schließlich 1845 zu einer Einigung und die jüdische Gemeinde konnte den Friedhof inklusive einer Erweiterung für 200 Gulden erwerben.[13] 

 

Grabstätte von Albert Schäfer, Bild: Harald Schwaderer, Verein für jüdische Kultur in Tübingen.
Grabstätte von Albert Schäfer, Bild: Harald Schwaderer, Verein für jüdische Kultur in Tübingen.

Die Grabstätten auf dem Friedhof sind alle nach Osten, in Richtung Jerusalem, ausgerichtet.[14] Inschriften und Verzierungen zeigen den Wandel, aber auch Beständigkeit im jüdischen Leben und dem Umgang mit Tod und Trauer. Der Friedhof kann grob in drei Teile gegliedert werden, die unterschiedliche Entwicklungen aufzeigen. Die ältesten zirka 40 Grabstätten finden sich links vom Eingang und wurden zwischen 1789 und 1862 errichtet. Alle tragen hebräische Inschriften, die stark verwittert sind, nur auf den ‚jüngsten‘ beiden Grabsteinen ist die Inschrift zusätzlich noch auf Deutsch vorhanden. Der zweite Bereich am Westrand besteht aus zirka 60 Grabmalen, die bogenförmig in drei Reihen angeordnet sind. Hier wurden Menschen begraben, die zwischen 1865 und 1902 starben, auch einige Kindergräber finden sich in diesem Bereich. Diese Gräber wurden fast alle eingefasst, auch auf den Grabsteinen ist eine Veränderung zu beobachten. Fast alle sind nun zweisprachig und ab den 1880er Jahren finden sich auch häufiger Daten, die nach der christlichen Zeitrechnung angegeben werden und nicht nach dem jüdischen Kalender. Der dritte Bereich des Friedhofs befindet sich auf der rechten Seite. Hier sind die ‚jüngsten‘ Gräber, die zwischen 1903 und 1941 angelegt wurden, sie sind alle umrandet und es finden sich vermehrt Grabsteine, deren Inschrift nur noch auf Deutsch angebracht wurde.[15] Hier zeigt sich die zunehmende Verflechtung der jüdischen Kultur mit der Mehrheit besonders eindrücklich.[16]

 

Der letzte Tübinger Bürger, der in Wankheim bestattet wurde, war Albert Schäfer im Jahr 1941. Er starb an den Spätfolgen seiner Verschleppung in das KZ Dachau im Zuge der Reichspogromnacht 1938. Neben seinem Grab findet sich ein Mahnmal, für das 1945 der für kurze Zeit nach Tübingen zurückgekehrte Victor Marx den Auftrag erteilte, es wurde schließlich zwei Jahre später errichtet. Auf einer Steintafel befinden sich unter einem Davidstern die Namen von 14 ermordeten Tübinger und Reutlinger Jüd*innen.[17] 

 

Mahnmal auf dem Friedhof, Bild: Sarah Huber.
Mahnmal auf dem Friedhof, Bild: Sarah Huber.

Pflege und Umgang mit dem Friedhof heute

Aktuell engagiert sich der Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen e.V. für den Erhalt des jüdischen Friedhofs, der zunehmend vom Verfall bedroht wird. Der Verein setzt sich dafür ein, den Friedhof als Zeugnis jüdischen Lebens in der Region zu bewahren und als Lern- und Bildungsort zu entwickeln.[18]

 

Der jüdische Friedhof in Wankheim gibt Einblicke in die Lokalgeschichte und macht einen Blick auf jüdisches Leben in der schwäbischen Provinz möglich. Die Grabstätten zeigen Veränderungen auf, aber auch die Beständigkeit von jüdischen Traditionen. Durch die Grabstätte von Albert Schäfer und das Mahnmal führt uns der Friedhof auch ganz praktisch unsere Verantwortung im Umgang mit der Vergangenheit und ihren Zeugnissen in der Gegenwart vor Augen.

 

Die Mitglieder des Vereins für jüdische Kultur in Tübingen machen an mehreren Tagen im Monat den Zugang zum Friedhof möglich. Weitere Informationen sind der Homepage des Vereins zu entnehmen:

Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen e.V. | Über die Arbeit des Vereins und Informationen zur jüdischen Geschichte in Tübingen (verein-juedische-kultur-tuebingen.de)

 

Ein Beitrag von Sarah Huber


Dank

Wir danken dem Verein für Jüdische Kultur in Tübingen und Herrn Harald Schwaderer für die freundliche Unterstützung und die Bereitstellung von Bildmaterial.

 

Literatur und Quellen (inkl. externer Links):

Böhringer, Wilhelm: 1887 zog die letzte Jüdin weg. Die Geschichte der israelitischen Gemeinde in Wankheim. In: Tübinger Blätter 61, 1974, S. 13-19.

Fuchs, Karlheinz: Häuser der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im südlichen Württemberg. Stuttgart 2014.

Lang, Hans-Joachim: Tübingen nach dem Holocaust: Wie sehr die Stadt ihre Juden vermisste. In: Die Heimkehrertafel als Stolperstein. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit in Tübingen, Kleine Tübinger Schriften, Band 32, Tübingen 2007, S. 95-114.

Nachama, Andreas; Homolka, Walter; Bomhoff, Hartmut: Basiswissen Judentum, Freiburg 2015.

Schönhagen, Benigna: Der Jüdische Friedhof Wankheim. Stätte der Erinnerung, historisches Dokument und Gedenkort.  Tübingen/Rottenburg 20.09.2020, S.7. http://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/wp-content/uploads/2020/11/54bbc20f8b6eb98b10576fca37d70a41.pdf (17.05.2021).

Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 38-42.

Ulmer, Martin: Die Tübinger Juden – eine wechselvolle Geschichte. In: Verein der Freunde und Förderer des Instituts für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen: landeskundig Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte, Band 4. Hirbodian, Sigrid, Wegner Tjark (Hrsg.): Tübingen.  Aus der Geschichte von Stadt und Universität. Ostfildern 2018. S. 261-282.

Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden. Tübingen 52018.

 

Jüdischer Friedhofhttp://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/?page_id=553 (20.05.2021, externer Link).

 

Fußnoten (inkl. externer Links):

[1] Vgl. Lang, Hans-Joachim: Tübingen nach dem Holocaust: Wie sehr die Stadt ihre Juden vermisste. In: Die Heimkehrertafel als Stolperstein. Vom Umgang mit der NS-Vergangenheit in Tübingen, Kleine Tübinger Schriften, Band 32, Tübingen 2007, S. 95.

[2] Vgl. Nachama, Andreas; Homolka, Walter; Bomhoff, Hartmut: Basiswissen Judentum, Freiburg 2015, S. 347.

[3] Vgl. Nachama, Andreas; Homolka, Walter; Bomhoff, Hartmut: Basiswissen Judentum, Freiburg 2015, S. 331.

[4] Vgl. Nachama, Andreas; Homolka, Walter; Bomhoff, Hartmut: Basiswissen Judentum, Freiburg 2015, S. 347.

[5] Vgl. Schönhagen, Benigna: Der Jüdische Friedhof Wankheim. Stätte der Erinnerung, historisches Dokument und Gedenkort.  Tübingen/Rottenburg 20.09.2020, S.7. http://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/wp-content/uploads/2020/11/54bbc20f8b6eb98b10576fca37d70a41.pdf (17.05.2021).

[6] Vgl. Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 38.

[7] Vgl. Böhringer, Wilhelm: 1887 zog die letzte Jüdin weg. Die Geschichte der israelitischen Gemeinde in Wankheim. In: Tübinger Blätter 61, 1974, S. 13.

[8] Vgl. Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 40.

[9] Vgl. Ulmer, Martin: Die Tübinger Juden – eine wechselvolle Geschichte. In: Verein der Freunde und Förderer des Instituts für Geschichtliche Landeskunde und Historische Hilfswissenschaften der Universität Tübingen: landeskundig Tübinger Vorträge zur Landesgeschichte, Band 4. Hirbodian, Sigrid;Wegner Tjark (Hrsg.): Tübingen.  Aus der Geschichte von Stadt und Universität. Ostfildern 2018, S. 267.

[10] Vgl. Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 40.

[11] Vgl. Nachama, Andreas; Homolka, Walter; Bomhoff, Hartmut: Basiswissen Judentum, Freiburg 2015, S. 347.

[12] Vgl. Fuchs, Karlheinz: Häuser der Ewigkeit. Jüdische Friedhöfe im südlichen Württemberg. Stuttgart 2014, S. 99.

[13] Vgl. Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 40.

[14] Vgl. Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden. Tübingen 52018, S. 99.

[15] Vgl. Setzler, Wilfried: Der jüdische Friedhof in Wankheim. In: Tübinger Blätter 2015, S. 41.

[16] Vgl. Schönhagen, Benigna: Der jüdische Friedhof Wankheim. Stätte der Erinnerung, historisches Dokument und Gedenkort. Tübingen/Rottenburg 20.09.2020, S. 5. http://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/wp-content/uploads/2020/11/54bbc20f8b6eb98b10576fca37d70a41.pdf (17.05.2021).

[17] Vgl. Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden. Tübingen 52018, S. 100.

 

[18] Vgl. Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen e.V.: Jüdischer Friedhof. http://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/?page_id=553 (17.05.2021). 

 


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