Für die Kolonialbegeisterten in Württemberg war der Sommer 1928 eine ereignisreiche Zeit. Ehemalige Kolonialsoldaten und Kolonialbeamte, die Mitglieder der Kolonialgesellschaft und des Frauenbundes sowie viele weitere Kolonialbegeisterte strömten ab dem letzten Maitag in die württembergische Landeshauptstadt. Es fanden Vorstands- und Hauptversammlungen der Deutschen Kolonialgesellschaft und des Kolonialen Frauenbundes im großen Hörsaal der Technischen Hochschule statt. Dem Tagungsort gegenüber öffnete am 2. Juni in den Stuttgarter Gewerbehallen und im angrenzenden Stadtgarten eine große Kolonialausstellung ihre Tore. Am 4. Juni marschierten ehemalige Schutztruppensoldaten in Begleitung von Musikkapellen durch die Stuttgarter Innenstadt. Die Tagespresse berichtete ausführlich von der Stuttgarter Kolonialwoche, die am 5. Juni im Rittersaal des Tübinger Schlosses ihren Abschluss fand.
In Tübingen war man über die kolonialen Veranstaltungen bestens informiert. Auf der Titelseite berichtete die Tübinger Chronik am 2. Juni über die Hauptversammlung des Frauenbundes der Deutschen Kolonialgesellschaft, zwei Tage zuvor hatten die Kolonialfrauen bereits ihre Vorstandssitzung in Stuttgart abgehalten. Ebenso tagte die Hauptversammlung des Frauenvereins vom Roten Kreuz für Deutsche in Übersee, der von der Ehefrau des Präsidenten der Kolonialgesellschaft, Herzogin Elisabeth von Mecklenburg, geführt wurde.[1]
Am Montag, den 4. Juni, machten die Stuttgarter Kolonialveranstaltungen erneut in Tübingen Schlagzeilen. Auf der Titelseite berichtete die Tübinger Chronik von der Hauptversammlung der Deutschen Kolonialgesellschaft, die der ehemalige Gouverneur von Kamerun und von Deutsch-Südwestafrika, Theodor Seitz, als ihr Präsident am Samstag im großen Hörsaal der Technischen Universität eröffnet hatte.
Ausführlich besprach die Tübinger Zeitung den Festzug, der Sonntagvormittag vom Mittleren Schlossgarten einmal um das Stuttgarter Stadtzentrum führte und im Schlosshof endete. Bei schönem Wetter säumten Tausende von Zuschauern den Tross aus Musikkapellen und bewaffneten Reitern: Schutztruppenreiter vorneweg, gefolgt von Musikern und der Stuttgarter Stadtgarde zu Pferde. Viele auswärtige Vereine des Deutschen Kolonialkriegerbundes schlossen sich an, letztere meist ohne Uniform. Dazwischen Kamele, originelle Festwagen und ein Ochsenwagen mit acht Tieren.
„Weiter folgten ostafrikanische Mitkämpfer Lettow Vorbecks [sic], koloniale Jugendtruppen und nicht zuletzt ein mit Affen besetzter Käfigwagen, der große Heiterkeit auslöste. […] Der Marineverein Stuttgart führte einen Festwagen mit, der einen mit Matrosen bemannten Kreuzer darstellte. Der Frontkämpferbund, die Jägervereinigung[,] der Bund für Grenz- und Heimschutz, der deutsche Seeverein, der Jungdeutschlandbund und eine weitere stattliche Zahl von Vereinen und Verbänden mit ihren Standarten und Fahnen, vor allem die Schutztruppenmusikkapelle mit ihrer Khakiuniform schlossen sich an und gaben dem Zug eine weitere Ausschmückung.“[2]
Das militärische Spektakel mit Musikendete mit einer Abschlusskundgebung im Schlosshof. Eine Gedenktafel für die inder Südsee gefallenen Soldaten wurde enthüllt, dann sprachen der Zentrumspolitiker und ehemalige Reichskolonialminister Johannes Bell über koloniales Märtyrertum und gegen die angebliche Kolonialschuldlüge.[1] Danach forderte der ehemalige Gouverneur von Deutsch-Neuguinea Eduard Haber – bald Dozent für Kolonialpolitik, Kolonialrecht und internationale Rohstoffwirtschaft an der Universität Tübingen – ein neues deutsches Kolonialreich aus Gründen der Rohstoffsicherung. Dies stieß 1928 auf lebhafte Zustimmung der begeisterten Massen.
150 Mitglieder der deutschen Kolonialgesellschaft reisten am 5. Juni von Stuttgart mit dem Auto über das am Albtrauf gelegene Schloss Lichtenstein nach Tübingen. Zunächst führte Professor Gottlieb Olpp die Besucher durch das Tropengenesungsheim. Um 17.30 Uhr lud die Universität in das Tübinger Schloss zu einem Vesperschoppen. Dessen Besuch hatte die württembergische Hochschulzeitung schon zwei Wochen zuvor angekündigt und zur „vaterländischen Pflicht“ für die Studierenden erklärt.[2] Der Schlosshof war in den Farben der Burschenschaften geschmückt. Die Abendleitung oblag dem AStA-Vorsitzenden Würz, „der es nicht immer leicht hatte, die in jugendlicher Begeisterung schlagenden Herzen der Kommilitonen unter sein Kommando zu zwingen“, berichtete die Tübinger Chronik am folgenden Morgen.[3]
Prorektor August Hegler begrüßte die Gäste und erinnerte an das Heimatgefühl und die Vaterlandsliebe, die durch die Kolonien vertieft würden. Er betonte die Rolle der Tübinger Wissenschaft als „eine geistige Helferin an der kolonialen Arbeit" und schloss mit „dem Wunsche, daß [sic!] der koloniale Gedanke, der Gedanke eines größeren Deutschlands, sich tief in den Herzen der Jugend eingraben möge“.[4] Nachdem Deutschlandlied sprach der Geographieprofessor und Vorsitzende der Tübinger Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft über die Notwendigkeit, die Kolonien trotz Widrigkeiten wieder zurückzuerobern: Das „wehrlose Deutschland“ stehe einer „Welt von Waffen“ gegenüber. Der Präsident der Deutschen Kolonialgesellschaft, Theodor Seitz, lobte die Anwesenheit der deutschen Jugend als den bestmöglichen Tagungsabschluss. Die meisten Kolonialdeutschen seien indem Kampf um die deutschen Kolonien alt und grau geworden. „An der Jugend liege es, sich in die Reihe der Kämpfer einzugliedern.“[5] Bevor die Veranstaltung endete, verlas der Nationalökonom und Asienexperte Carl Johannes Fuchs noch ein Grußtelegramm des ehemaligen Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika und Staatssekretärs des Reichskolonialamtes Friedrich von Lindequist.[6] Fast zehn Jahre nach dem Ende der deutschen Kolonialherrschaft begeisterten die früheren Kolonisatoren erneut die Jugendlichen mit ihrem Traum von einem großen deutschen Kolonialreich und imperialer Weltgeltung. Die Kolonialbewegung bekam wieder Zulauf und die kolonialrevisionistische Rhetorik wurde zunehmend aggressiver.
Ein Beitrag von Carsten Gräbel
[1] Vgl. Tübinger Chronik, 2. Juni 1928, Nr. 127.
[2] Tübinger Chronik, 2. Juni 1928, Nr. 127.
[3] Die Gedenktafel wurde in die Dragoner-Kaserne in Bad Cannstatt verbracht, bis sie schließlich in die Ausstellung des Garnisonmuseums Ludwigsburg integriert wurde. Ich danke Heiko Wegmann für diesen Hinweis.
[4] Württembergische Hochschulzeitung, N.F. Nr. 5, 15. Mai 1928, S. 11.
[5] Tübinger Chronik, 6. Juni 1928, Nr. 130.
[6] Tübinger Chronik, 6. Juni 1928, Nr. 130.
[7] Tübinger Chronik, 6. Juni 1928, Nr. 130.
[8] Württembergische Hochschulzeitung, N.F. Nr. 6, 15. Juni 1928, S. 17, und Tübinger Chronik, 6. Juni 1928, Nr. 130.
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