Entringen liegt im Ammertal zwischen Tübingen und Herrenberg unterhalb des Schönbuchtraufs. Mitten im historischen Ortskern befindet sich das Gotteshaus des Dorfes, das möglicherweise bis auf das 7. oder 8. Jh. zurückgeht, wie archäologische Entdeckungen vermuten lassen (Bauer/Scholkmann, S. 35-48). Der heutigen Kirche sieht man ihr Alter jedoch nicht an, da es sich um den typischen Bau eines spätgotischen ländlichen Gotteshauses handelt. Dessen Datierung auf das ausgehende Mittelalter wird durch eine Bauinschrift an der Südwestecke, von einer Regenrinne überdeckt und durch Büsche versteckt, bestätigt: „anno d(omin)i mcccclii / incepta est hec ecc(les)ia“ – „im Jahr des Herrn 1452 wurde diese Kirche angefangen“. Während St. Michael von außen eine eher typisch spätgotische ländliche Kirche zu sein scheint, zeigen sich vor allem im Inneren ein paar Besonderheiten: Neben einer Adelsempore gehört eine große Anzahl an Grabmälern unterschiedlichster Ausformungen und verschiedener Zeiten zu den Auffälligkeiten. Ein genauerer Blick auf solche Quellen, die vermeintlich nur die Ortsgeschichte betreffen oder überhaupt kaum aussagekräftig zu sein scheinen, kann helfen, weit über das Lokale hinaus Zusammenhänge zu erkennen und zu verstehen.
Eine spätgotische Grabplatte zeugt vom wahrscheinlichen Bauherrn des heutigen Kirchenschiffs: Rudolf von Ehingen war neben den Hailfingern wohl hauptverantwortlich für den gotischen Neubau von 1452 (Bauer/Scholkmann, S. 134f). Dies bezeugen auch die Wappen der beiden genannten Familien, die oberhalb des westlichen Hauptportals von St. Michael angebracht sind (ebd. S. 131). Rudolf, der Vater des wesentlich bekannteren Georgs von Ehingen, der sich durch seinen Reisebericht ins Heilige Land einen Namen in Südwestdeutschland gemacht hat (Beschreibung des Herrn Georgen von Ehingen Raysens nach der Ritterschafft), hatte zeitweise seinen Wohnsitz oberhalb des Ortes im Schloss Hohenentringen. In dieser Ganerbenburg, also eine Burg im Besitz mehrerer Familien, von der sich ein wunderbarer Blick über das Ammertal und auf Entringen mit seiner Pfarrkirche ergibt, befindet sich heute ein Ausflugslokal. Rudolf selbst war Lehnsmann und später auch wichtiges Ratsmitglied der württembergischen Grafen. In St. Michael befand sich die Grablege der Ehinger, was der Hauptgrund für Rudolfs Engagement beim Kirchenneubau gewesen sein dürfte. Neben diesem Neubau zeigte sich Rudolf auch andernorts als Stifter und tiefgläubiger Zeitgenosse, so lebte er zeitweise als Pfründner in der Kartause Güterstein – also als eine Art Pensionär in einem Kloster mit sehr strengen Ordensregeln (Holzherr, S. 28–33; Deigendesch, S. 399f.).
Noch heute zeugt die Inschrift davon, dass er bereits zu Lebzeiten die Grabplatte in Entringen für sich und seine damals bereits verstorbene Ehefrau anfertigen ließ: „anno d(omi)ni m cccc l obi(it) / rudolphus de ehingen armiger / (Agn)eta de waldeck alias de haimertingen ioh(annes) baptiste“ – „Im Jahr 1450 starb Rudolf von Ehingen, Edelknecht. Agnes von Waldeck, auch genannt von Heimerdingen, [starb] an Johannes Baptista“. Wenngleich Teile der Grabplatte stark beschädigt sind, wird deutlich, dass die Jahreszahl 1450 (MCCCL) in römischen Ziffern am oberen Rand leicht ergänzt werden konnte und nach dem Tode des Auftraggebers sicherlich auch sollte. Ein solches Vorgehen ist nicht selten und findet sich beispielsweise ebenfalls bei einem Grabstein an der Kirche in Pfäffingen, dem Nachbarort Entringens – man beachte die „Platzhalter“ ohne Text. Dem Pilgerbericht Georgs von Ehingen ist zu entnehmen, dass dessen Vater 1459 (nun hätte noch IX hinter der bereits vorhandenen Zahl ergänzt werden müssen) verstarb und dann von der Kartause Güterstein aus nach Entringen gebracht wurde, um in einer Gruft in St. Michael neben seiner Frau beerdigt zu werden (Holzherr, S. 32; Deigendesch, S. 39). Doch nicht nur Rudolf von Ehingen und sein Sohn Georg verbinden die Kirche St. Michael und das Dorf Entringen mit der württembergischen Geschichtsschreibung, sondern auch die Familie Neuheller verknüpft die Lokalgeschichte mit der des gesamten Landes: Johannes Neuheller (latinisiert Neobolus), Pfarrer in Entringen (1568-1610) und Nachfolger seines eigenen Vaters auf dieser Stelle, ließ für sich, seine Frau Magdalena Dotzinger und seinen Vater ein Grabdenkmal in der Kirche errichten. Johannes selbst schrieb eine kürzere Chronik, die nicht gedruckt, aber reichlich rezipiert wurde, da er in engem Kontakt mit Martin Crusius stand, der ihn auch in seiner Schwäbischen Chronik zitierte. Doch auch sein Vater Jost spielte über das Ammertal hinaus eine Rolle für das Herzogtum, wie sich dessen Reimepitaph, das ebenfalls in St. Michael zu finden ist, entnehmen lässt.
„[…] ZV WITTTENBERG DER SCHVL IN SAXENLAND / BEY D(R) MARTIN LVTHER VIL ERKANDT / DREY IAR AN SEINEM TISCH IN SEINE(M) HAVSS / GROSS EYFFER KV(N)ST VND EHR BRACHT ER DARAVS / IN WIRTENBERG VON DAN(N)EN IST KOM(M)EN / VND DRIN(N) ZVM PREDIGER ANGENOM(M)EN / […] IM INTERIM ER DANNOCH B(E)STÄNDIG BLIEB / GEN TRIENT IHN DER FROM(M) FV̈RSTE SANDT / [A]VFS CONCILIVM HIN INS WELSCHE LAND […]“.
Der Entringer Pfarrer Johannes nahm, geschickt von Herzog Christoph, im Winter 1551/52 am Konzil von Trient teil, wenngleich vergeblich, da er und Dr. Jakob Beurlin, die beiden von Württemberg geschickten Theologen, ihre Lehre nicht darlegen durften (Bossert, S. 150f.).
Selbstverständlich ist in einer Kirche, die zahlreiche Grabdenkmäler enthält, der Tod auf den Inschriften allgegenwärtig. Allerdings finden sich auch weitere Themen, auf die in der Kirchenausstattung eingegangen wird. So zum Beispiel in Form von Allegorien von Tugenden auf der Adelsempore, vor Ort als Schloss-Stuhl bekannt. Solche Adelsemporen – diese war ursprünglich an der nördlichen Chorseite angebracht – gibt es seit dem Mittelalter (auch Fürstenemporen genannt). In ländlichen Kirchen finden sich heute nur noch wenige erhaltene frühneuzeitliche Adelsemporen aus Holz wie diese, so etwa in der Amanduskirche in Beihingen (bei Freiberg am Neckar, 1620). Das Entringer Exemplar stiftete Johann Philipp von Remchingen zu Hohenentringen zusammen mit seiner Frau Elisabeth Sybilla im Jahr 1627. Die Empore schmückt ein Programm, das von den Familienwappen des Stifterehepaares (von Remchingen und von Gültlingen) sowie sieben Tugenden geprägt ist. Aus der Betrachterperspektive auf der Vorderseite der Adelsempore (heute Richtung Osten, zum Chor zeigend) finden sich links der beiden zentralen Wappen die drei christlichen Tugenden Glauben, Liebe und Hoffnung (siehe Schema). Auf der rechten Seite sind die Allegorien der vier Kardinalstugenden, die bereits Cicero definiert hatte und die in der christlichen Tradition übernommen wurden, angebracht: Gerechtigkeit und Klugheit sowie Mäßigung und Tapferkeit.
Die etwas ungelenk gemalten Allegorien werden durch ihre Benennung, aber auch durch unterhalb angebrachte Sinnsprüche kenntlich gemacht. Die Wappen in Verbindung mit den ebenfalls vorhandenen Psalmen und Bibelzitaten auf der Empore zeugen vom Selbstverständnis des lokalen Adels als tugendhaft protestantisch-christlicher Herrschaftsträger. Mit seiner Stiftung setzte er sich selbst ein der ganzen Gemeinde regelmäßig vor Augen stehendes Denkmal und manifestierte die Herrschaftsverhältnisse – unter Ausklammerung der württembergischen Landesherren – im Gotteshaus. Die Stifterinschrift bezeugt, dass die Symbolik die Zeit überdauern und vom bereits genannten Schloss Hohenentringen aus ein dauerhafter Anspruch auf das Dorf und die Kirche seitens der Familie Remchingen erhoben wird. Dies erschließt sich anhand der an ein dynastisch orientiertes Ortsherrschaftsverständnis erinnernden Formulierung „IOHANN PHILIP VON REMCHINGEN VFF HOHENENTRINGEN FRAW ELISABETH SYBILLA / VON REMCHINGEN GEBORNE VON GÜLTLINGEN HABEN DIESEN STVL FÜR SIE VNND / DEREN NACHKOMEN HEREIN MACHEN LASSEN. ANNO 1627“ – die künftige Herrschaft über das Dorf wird dadurch beansprucht, dass die Stifter wie ihre Nachkommen als (künftige) Nutzer der Adelsempore, sich dauerhaft über die Dorfbewohner „erheben“. Diese exklusive „Sitzgelegenheit“ während der Gottesdienste manifestiert symbolisch den höheren sozialen Status der Schlossbewohner, die nach dem Gottesdienst wieder hinauf in ihr Schloss gehen konnten – mit Blick auf das Ammertal, Entringen und dessen Pfarrkirche St. Michael.
Ein Beitrag von Tjark Wegner
Weiterführende Literatur:
Bauer, Reinhold/Scholkmann, Barbara (Hgg.): Die Kirche im Dorf. St. Michael in Entringen, Tübingen 2002.
künftig: Schwabe, Fabian/Wegner, Tjark (Hgg.): Die Inschriften der Gemeinde Ammerbuch, bearb. von Tjark Wegner, Fabian Schwabe, Eva Lanz u.a., erscheint 2021.
Weitere verwendete Literatur:
Bossert, Gustav: Das Interim in Württemberg, Halle 1895.
Deigendesch, Roland: Die Kartause Güterstein. Geschichte, geistiges Leben und personales Umfeld (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, Bd. 39), Leinfelden-Echterdingen 2011.
Holzherr, Carl: Geschichte der Reichsfreiherren von Ehingen bei Rottenburg a. N. Ein Beitrag zur Geschichte Schwabens und seines Adels aus Urkunden und Chroniken bearbeitet, Stuttgart 1884.
Nachschlagewerke und Datenbanken:
Lexikon für Theologie und Kirche, 2. völlig neu bearbeitet Auflage, 10 Bde., Freiburg im Breisgau 1957–1967.
Lexikon der Christlichen Ikonografie, Lizenzausgabe, 8 Bde., Darmstadt 2012.
Grotefend, O.: Taschenbuch der Zeitrechnung, Hannover 1941.
https://www.wkgo.de/personen/personensuche [externer Link, zuletzt aufgerufen am 05.01.2021].
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