Wer von Tübingen, Herrenberg oder von den Fildern kommend in Richtung Schönbuch strebt, der hat meistens im Sinn, bei Bewegung und frischer Luft den Kopf frei zu bekommen und etwas für die eigene Fitness zu tun. Dass man im größten zusammenhängenden Waldgebiet der Region Stuttgart auch viele historische Spuren aufnehmen kann, ist weniger bekannt.
„Dig where you stand”, so lautet das Credo des Historikers Sven Lindqvist[1], der sich vor allem für die Lokalgeschichtsforschung und die außerakademische Arbeit von Geschichtsvereinen stark machte. Sein Impuls kann aber auch weiter aufgefasst werden: Warum Quellen der Vergangenheit immer nur in staubigen Archiven, alten Gemäuern und anhand von Artefakten nachspüren? Auch draußen in der Natur, vor unseren Haustüren, auf dem Feld und im Wald können wir mehr über vergangene Zeiten lernen. Fährt man das „Kayher Sträßle“ von Bebenhausen Richtung Ammertal entlang, so kommt man an einem außergewöhnlich hohen, mächtigen Baum vorbei. Seine Rinde ist braun-rötlich und grobschuppiger als die der Nadel- und Laubbäume rundherum. Es ist ein Riesen-Mammutbaum, der Familie der Zypressengewächse zugehörig. Die fachwissenschaftliche Bezeichnung lautet „Sequoiadendron giganteum”, was an den Namen „Sequoyah“, einer Persönlichkeit aus der Gesellschaft der Cherokee, angelehnt sein könnte. Im Gegensatz zu den Cherokees, die um den Ohio River in den Gebieten von Georgia und Alabama beheimatet sind, ist der „Sequoiadendron” im Westen Kaliforniens zu Hause. Vor 65 Millionen Jahren wuchsen die Mammutbäume noch auf allen Erdteilen. Die letzte Eiszeit überlebten die hohen Gewächse nur in den Schluchten der kalifornischen Sierra Nevada. An den Westhängen dieser Schluchten können die Bäume über 2500 Jahre alt werden.
Doch wie fand die Pflanzenart ihren Weg in den württembergischen Schönbuch? Die Antwort findet sich im Jahr 1864, am Hofe des württembergischen Königs Wilhelm I. Dieser beauftragte damals die königliche Bau- und Forstdirektion, Samen des berühmten Mammutbaums an den Hof zu bringen. Der genaue Grund für diesen Auftrag ist heute nicht mehr nachvollziehbar, wohl kann er aber im Kontext des Aufbaus der botanischen Anlagen der „Wilhelma” gesehen werden: Der heute überregional bekannte Stuttgarter Zoo war ursprünglich ein rein privater Rückzugs- und Repräsentationsort Wilhelms I. Nicht nur die im damals modischen, im maurischen Stil gefertigten Bauten im Park sollten Besucher*innen beeindrucken – auch auf botanischer Ebene sollte die Anlage durch Raritäten glänzen: Mammutbäume waren da genau das Richtige. Wilhelms Interesse und sein Bedürfnis, besondere Pflanzen- und Tierarten aus allen Gegenden der Welt zu sehen und in seiner Wilhelma zu beheimaten, entsprach dem damaligen Zeitgeist: Naturwissenschaften erfreuten sich in der Friedenszeit nach der napoleonischen Ära einer wachsenden Popularität an deutschen Universitäten. Der Drang nach wissenschaftlichen Entdeckungen überlagerte die zuvor dominante Naturphilosophie. Wissenschaftler erkundeten andere Erdteile und brachten ihre Funde mit zurück nach Europa – darunter auch Pflanzensamen, die dann zum Beispiel in botanischen Gärten gezüchtet und weiter erforscht wurden. Nachdem sie erfolgreich im Kalthaus der Wilhelma herangezüchtet worden waren, kam es 1865 zur Auspflanzung der Jungbäume. Ab 1870 wurden diese dann an ihren endgültigen Standort versetzt: 5000 Mammutbäume wurden vom Bodensee bis nach Nord-Württemberg in der Nähe von Osterburken gepflanzt.[2]
Dass so viele Bäumchen gezüchtet wurden, den besonders eisigen Winter 1879/1880 überlebten und damit auch heute noch ihre Wurzeln außerhalb ihrer Heimat schlagen, liegt unter anderem an einem gehörigen Missverständnis: Es gab einen Fehler in der Bestellung – ob auf württembergischer oder kalifornischer Seite, ist in der Überlieferung umstritten. Und so wurde anstelle einiger weniger Samen insgesamt ein Pfund des federleichten Saatguts geliefert, was geschätzt mehrere Tausend Samen bedeutete.[3] Man zog dann ganze 5000 Pflänzchen als „Wilhelma-Saat” heran, von denen heute noch über 300 Exemplare an über 100 Standorten in Baden-Württemberg und Bayern bewundert werden können. Das wohl eindrucksvollste Exemplar ist in der Nähe von Backnang, einem Ort nordöstlich von Stuttgart, zu finden: Die Höhe des Baumes beträgt 57,1 Meter.[4]
Ein Beitrag von Anna Valeska Strugalla
Fußnoten:
[1] Lindqvist, Sven: Dig Where You Stand. in: Meddelande Från Arbetarrörelsens Arkiv Och Bibliotek 16 (1980), S. 42–47.
[2] Eine Übersichtskarte ist auf der Seite des Projekts “Wilhelma-Saat” einsehbar: https://www.wilhelma-saat.de/?page_id=323 (zuletzt eingesehen am 02.05.2020).
[3] Verschiedene Versionen des „Missverständnisses” nachzulesen unter: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.mammutbaeume-in-der-wilhelma-5000-mammuts-aus-federleichten-samen.ef88ce4a-d62e-4fdc-a315-0d50e45042c1.html (zuletzt eingesehen am 02.05.2020).
[4] Vgl. https://www.wilhelma-saat.de/?s=backnang (zuletzt eingesehen am 02.05.2020).
Literatur:
Kapitel „Vormärz und Revolution – Wissenschaft, Forschung und Technik” auf der Lemo-Plattform des DHM: https://www.dhm.de/lemo/kapitel/vormaerz-und-revolution/wissenschaft-forschung-und-technik.html (Letzter Zugriff am 11.05.2020, externer Link).
Mehr historische Orte im Schönbuch hat Heinz Seehagel zusammengetragen: https://www.schoenbuchseiten.de/h/809001.html (Letzter Zugriff am 11.05.2020, externer Link).
Zur Geschichte der Wilhelma: Timo John: Die Wilhelma. Einst ein Märchengarten aus 1001 Nacht. In: Die königlichen Gärten des 19. Jahrhunderts in Stuttgart. Worms 2000.
Zur Geschichte der Sequoias in Baden-Württemberg: https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.mammutbaeume-in-stuttgart-das-geheimnis-des-samenhaendlers-ist-gelueftet.dc8a467c-2fcf-4fc7-8602-619b9471a08b.html (Letzter Zugriff am 11.05.2020, externer Link).
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