In Tübingen haben Studentenverbindungen eine fast so lange Tradition wie die Universität selbst. Das Stadtmuseum widmete ihnen im Jahr 2016 eine eigene Ausstellung, rückte ihre Bedeutung für die Stadtgeschichte in den Blick und veröffentlichte einen Katalog, in dem sich nun wissenschaftliche Beiträge mit dem beschäftigen, was zuvor mehrheitlich in Eigenpublikationen stattfand: der verbindungseigenen Geschichte.[1] Der Katalog (externer Link) schafft es jedoch, vom Universitätsjubiläum 1927 direkt zum Verbindungswesen nach 1968 zu springen. Dabei forderte gerade die NS-Zeit von allen Verbindungen einen Bruch, der von Anpassung, Umstrukturierung und Eingliederung bis zur (freiwilligen) Auflösung reichte.[2] Inwiefern wurde ihre Identität der Nachkriegszeit durch die NS-Erfahrung und den internen Umgang damit beeinflusst? Wie schlugen sich die gesamtstudentische Aufarbeitung und der Reformgeist von „1968“[3] in den Verbindungen nieder?
Die Rolle der Studierenden als Hauptakteure von „1968“ und innerhalb der Verbindungen sowie Verbindungen an sich als Ort, an dem die Generationen direkt aufeinandertrafen, macht ihre internen Diskurse und Narrative besonders interessant. Dieser zweiteilige Beitrag und das zugehörige Ausstellungsplakat nehmen die internen Diskurse zweier Verbindungen zu NS-Vergangenheit und Reformen in den Blick, die sich zwar indirekt bedingten, aber nicht zusammen diskutiert wurden.
Zwei Verbindungen, unterschiedliche Wege, ein Problem
Die Verbindung Normannia mit dem Verein Alter Tübinger Normannen (VATN) und der Verein Alter Tübinger Luginsländer (VATL) gleichen sich zwar dem Namen nach, teilen sonst aber nur noch wenig. Gemeinsam ist ihnen der Ursprung als Stiftsverbindung 1861 bzw. 1873, jedoch stellten sie damals schon stark divergierende Angebote für die Studentenschaft dar im Hinblick auf Selbstbild und Konstitution der Vereinigung – Luginsland als theologischer Gesprächskreis, Normannia mit Pflichtleistungen und Waffe.[4] Seitdem gingen ihre Wege weiter auseinander. Heute zählt eine zu den aktiven, nicht-schlagenden Verbindungen Tübingens, die andere ist ein gemeinnütziger Verein geworden.[5] Trotz ihrer unterschiedlichen Ausprägungen damals und heute standen sie in den 1960er Jahren einem ganz ähnlichen Problem gegenüber, der schwindenden Bereitschaft unter den Studenten, sich für eine Verbindung anwerben zu lassen. Aus den Neueintritten lässt sich zwar ablesen, dass Luginsland noch mehr Mitglieder als Normannia gewann; die Zahlen gingen aber bei beiden Verbindungen zurück und verursachten Sorgen über Zukunft und Fortbestand. Doch wie lassen sich diese internen Diskurse greifen? Wie und was die Verbindungen diskutierten, schlug sich bis in die 1970er Jahre in ihren regelmäßigen Rundschreiben nieder, den „Blättern“. Sie hatten in beiden Verbindungen zwar unterschiedliche Ausrichtungen; in beiden Fällen berichteten aber Jung und Alt regelmäßig von Zusammenkünften und über strukturelle Veränderungen.
Luginsland – Wo sich NS- und Reformdiskurs treffen
1960 waren sich die Luginsländer einig: Studentenkreis wie Altenverein wollten eine Reform – nur in der Richtung war man noch uneins. Anlass war die schwindende Begeisterung für den Bibelabend, den die Alten gerne verpflichtend gemacht hätten. Die Aktiven mochten jedoch keinen „Kurswechsel um 180 Grad Richtung Verbindung“ und lehnten jegliches „Zwangssystem“ ab.[6]
In den kommenden Jahren sollte der Bibelabend zu einem der kleineren Probleme von Luginsland werden: Am Ende des Jahrzehnts sah sich der Studentenkreises mit weniger Beitritten konfrontiert. Die Aktiven gaben noch bis Anfang 1968 vage „Denkanstöße“ zum „Weiterbestehen des Kreises“.[7]
Als Katalysator für die Reformüberlegungen und die Auseinandersetzung mit „1968“ kann dann der Streit um Gerhard Schumann (1911–1995) 1968 festgemacht werden. Die neuen Werke des nationalsozialistischen Dichters und Luginsländers wurden in den 1950er Jahren von den Alten lobend in den „Luginsländer Blättern“ rezipiert. Sie waren sogar Anlass für frühe persönliche, apologetische Äußerungen zum Umgang mit belasteten Mitgliedern durch den Altenverein.[8] Als 1968 Schumanns neuer Gedichtband „Der Segen bleibt“ ebenso wohlwollend besprochen wurde, regte sich Widerstand bei den Jungen. Sie setzten den Umgang mit Schumann auf die Tagesordnung der nächsten Vollversammlung. Wie eng der Umgang mit der NS-Vergangenheit mit dem Reformdiskurs und der gesamtstudentischen Entwicklung verbunden war, zeigt die Position der jüngeren Mitglieder zum Umgang mit Schumann. Sie fragten in einem offenen Brief u. a.:
„Warum mußten diese Gedichte angesichts der heiklen Umstände besprochen werden, warum so unkritisch? Man denke sich einen Literaturstudenten, der sich für uns interessiert. Er findet in unseren Blättern das uneingeschränkte Lob eines Autors, der ihm aus einer Vorlesung von Professor Brinkmann im letzten Sommer über die Literatur zwischen den beiden Weltkriegen bekannt sein kann, und den er im Deutschen Seminar mit fünf Werken unter der gesondert gestellten Literatur der Hitleranhänger entdeckt.“[9]
Eine studentische Gemeinschaft „aus der Gegenwart heraus“[10]
Während der Fall Schumann recht schnell im Verein entschieden war (eine Minderheit schloss sich in christlichen Vergebungsgedanken Schumanns Lager an), wurde der Reformdiskurs wichtiger. In der gleichen Vollversammlung machte Luginsland den Weg für interne Reformen frei. Eine Reform-AG der Jungen und ein gemischter Ausschuss auf Vereinsebene sollten erarbeiten, wie Verein und Studentenkreis umstrukturiert werden könnten, um für die aktuelle Studentenschaft attraktiv zu sein. Bereits wenige Monate später hatte die Reform-AG Satzungsänderungen ausgearbeitet, die die Verbindung mehr zu einem „Klub“ mit Gleichstellung und freiwilliger Mitarbeit machen sollten, [11] – was bereits ohnehin praktiziert wurde. Die Veranstaltungen wurden spontaner und politischer, und wer eintrat, durfte von Beginn an voll mitentscheiden. Der gemischte Ausschuss gab in den Blättern von Anfang 1969 ein Gesprächsprotokoll seiner Überlegungen wieder. Jung und Alt teilten die Ansicht, eine Gemeinschaft lebe nicht aus der Tradition, sondern, auch früher schon, immer aus ihrer Gegenwart. [12] Sie sahen Luginslands Zukunft zwischen den Verbindungen und den „losen Klubs“ an der Universität. Als die Aktiven vorschlugen, „für 1 bis 2 Semester probeweise Studentinnen als Vollmitglieder aufzunehmen“,[13] erhielten sie Rückenwind von Alten, die sich in den Blättern für die „Mitgliedschaft von Mädchen“ aussprachen und darin „keine Gefahr für Luginslands Moral“, sondern die Chance auf neue Impulse von einem größeren Mitgliederkreis sahen.[14] Bereits im Sommer 1969 hatten sich diese Vorschläge durchgesetzt und probeweise durften auch Studentinnen aufgenommen werden. Gleich fünf von den acht neuen Mitgliedern waren Frauen.
Auch hochschulpolitisch machte Luginsland seine Position deutlich. Junge wie Alte erhielten 1968 Anfragen, den „Hochschulring Tübinger Studenten“ (HTS) zu unterstützen, in dem sich die Tübinger Verbindungsstudenten organisierten. Während die Alten zwar hinter der Idee des HTS standen, „die Universitätsreform auf geordnete Weise voranzutreiben“, entschlossen sie sich gegen eine finanzielle Beteiligung – die Jungen machten ihre Ablehnung deutlich, da der HTS den gesamtstudentischen Interessen zuwiderlaufe und „in obrigkeitlichem und legalistischen Denken gefangen“ bleibe. [15]
Für Luginsland scheint „1968“ sowohl von innen als auch von außen die entscheidenden Impulse gegeben zu haben, nicht nur die eigene Rolle als Verbindung in der hochschulpolitischen Studentenschaft zu denken, sondern besonders Reformen zuzulassen und zu erproben. Innerhalb weniger Monate wurden die strukturellen Veränderungen, die von den Aktiven und jungen Alten angeregt wurden, in relativem Einvernehmen aller Mitglieder umgesetzt und die Weichen gestellt für die heutige Gestalt des Vereins.
Ein Beitrag von Vera Brillowski
Der zweite Teil des Beitrags gibt Einblicke, wie sich „1968“ für die heute noch bestehende Verbindung Normannia abspielte: NS-Diskurse und “1968” in Tübinger Studentenverbindungen – Wege zu neuem Selbstverständnis. Teil 2: Normannia. Zeitfenster der Liberalisierung?
Beiträge aus dem Lehrforschungsprojekt:
3. Professoren im Zwielicht: Studentische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit (Patrick Schmitt)
4. Französische Besatzung in Tübingen (1/2) – Französische Kulturpolitik als Werkzeug der Entnazifizierung (Josephine Burtey)
5. Französische Besatzung in Tübingen (2/2) – René Cheval: diplomate culturel? (Josephine Burtey)
6. Gustav Rieks Wiedererlangung der venia legendi (Lennart Schmarsli)
7. Was die Dichter aber stiften, entscheidet der Staat! Schlussstrichdenken in der Hölderlingesellschaft (Wilhelm Röper)
8. Karl Fezer: ein umstrittener Stiftsephorus (Richard Kneer)
9. Krieg! … in der Leserbriefspalte? Veteranenkult in Tübingen nach 1945 (Marcel Alber)
Quellen des Beitrags:
Bachteler, Walter: Quo vadis, Luginsland? In: Luginsländer Blätter 67, 1 (1969), S. 4.
Donus, Wolfgang: Überlegungen zur Reform des Studentenkreises Luginsland. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 25–26.
Günzler, Dieter: Offener Brief. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 26–27.
Hermann, Hans: Gerhard Schumanns Nachkriegsdichtung. In: Luginsländer Blätter 55, 1 (1957), S. 4.
Hirzel, Hans-Werner: Bericht über das Sommersemester 1968. In: Luginsländer Blätter 66, 3 (1968), S. 16–17.
Kunze, Karl: Studentenkreis Luginsland. In: Luginsländer Blätter 58, 1 (1960), S. 8–9.
Spiess, Heinz: Zur Kritik an einer politischen Hochschulgruppe der Tübinger Studenten. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 24–25, S. 25.
Unseld, Georg: Mitgliedschaft von Mädchen? In: Luginsländer Blätter 67, 1 (1969), S. 3.
Literatur des Beitrags:
Borst, Otto: Die Stiftsverbindungen. In: Kratsch, Werner (Hg.): Das Verbindungswesen in Tübingen, Tübingen 1977, S. 99–119.
Daur, Albrecht; Mammone, Francesco (Hg.): Eine kleine Geschichte der Verbindung Normannia, Tübingen 2007.
Gedick, Marvin u.a. (Hg.): Burschen und Bürger. 200 Jahre Tübinger Studentenverbindungen, Ausstellungskatalog, Tübingen 2016.
Neusel, Wilhelm; AKTV (Hg.): Kleine Burgen, große Villen. Tübinger Verbindungshäuser im Porträt, Tübingen 2009.
Sannwald, Wolfgang: Schwierig erinnert in Tübingen. In: Hirbodian, Sigrid; Wegner, Tjark (Hg.): Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität, Tübingen 2018, S. 283–325.
Literatur und Quellen des Plakats
Daur, Albrecht; Mammone, Francesco (Hg.): Eine kleine Geschichte der Verbindung Normannia, Tübingen 2007.
Gedigk, Marvin u.a. (Hg.): Burschen und Bürger. 200 Jahre Tübinger Studentenverbindungen, Tübingen 2016.
Hantke, Manfred: Theodor Haering. In: NS-Akteure in Tübingen, URL: https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/biografien/bildung-forschung/theodor-haering (02.07.2024).
Heinze, Valentin: Gerhard Pfahler. In: NS-Akteure in Tübingen, URL: https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/biografien/bildung-forschung/gerhard-pfahler (02.07.2024).
Neusel, Wilhelm; AKTV (Hg.): Kleine Burgen, große Villen: Tübinger Verbindungshäuser im Porträt, Tübingen 2009.
VATL (Hg.): Luginsländer Blätter, Tübingen 1950–1969. Darin:
Gehring, Paul: Die Euthanasiemorde und wir. In: Luginsländer Blätter 58, 1 (1960), S. 4–6.
Günzler, Dieter: Offener Brief. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 26–27.
Hermann, Hans: Gerhard Schumanns Nachkriegsdichtung, In: Luginsländer Blätter 55, 1 (1957), S. 4.
Schumann, Gerhard: Erwiderung auf den „Offenen Brief“. In: Luginsländer Blätter 67, 2 (1969), S. 8–9.
VATN (Hg.): Normannenblätter, Tübingen 1950–1969. Darin:
o.A.: Bericht der Aktiven 1955/56. In: Normannenblätter 12 (1956), S. 288.
o.A.: Bericht der Aktiven 1956. In: Normannenblätter 13 (1956), S. 301–304.
Wanner, Paul: Zum Bundeslied. In: Normannenblätter 16 (1958), S. 413–414.
Wanner, Paul: Dank an den scheidenden Vorsitzenden Willi Schoeck. In: Normannenblätter 29 (1964), S. 887–889.
Fußnoten:
[1] Siehe Gedick, Marvin u.a. (Hg.): Burschen und Bürger. 200 Jahre Tübinger Studentenverbindungen, Ausstellungskatalog, Tübingen 2016. Beispiele für Eigenpublikationen wären Neusel, Wilhelm; AKTV (Hg.): Kleine Burgen, große Villen. Tübinger Verbindungshäuser im Porträt, Tübingen 2009 und speziell Daur, Albrecht; Mammone, Francesco (Hg.): Eine kleine Geschichte der Verbindung Normannia, Tübingen 2007.
[2] Siehe Neusel, Wilhelm; AKTV (Hg.): Kleine Burgen, große Villen. Tübinger Verbindungshäuser im Porträt, Tübingen 2009.
[3] Vgl. Sannwald, Wolfgang: Schwierig erinnert in Tübingen, in: Hirbodian, Sigrid; Wegner, Tjark (Hg.): Tübingen. Aus der Geschichte von Stadt und Universität, Tübingen 2018, S. 283–325, S. 297f.
[4] Vgl. Borst, Otto: Die Stiftsverbindungen, in: Kratsch, Werner (Hg.): Das Verbindungswesen in Tübingen, Tübingen 1977, S. 99–119, S. 111f. Vgl. Blennemann, Thilo: Das Haus der Verbindung Normannia, in: Neusel, Wilhelm; AKTV (Hg.): Kleine Burgen, große Villen. Tübinger Verbindungshäuser im Porträt, Tübingen 2009, S. 162–171, S. 163.
[5] Zur heutigen Verbindung Normannia siehe: Normannia: Über uns, URL: https://normannia-tuebingen.de/ (12.08.2024). Zum heutigen Haus Luginsland siehe: Haus Luginsland, URL: https://www.tuepedia.de/wiki/Haus_Luginsland (12.08.2024).
[6] Vgl. Kunze, Karl: Studentenkreis Luginsland. In: Luginsländer Blätter 58, 1 (1960), S. 8–9.
[7] Vgl. Hirzel, Hans-Werner: Bericht über das Sommersemester 1968. In: Luginsländer Blätter 66, 3 (1968), S. 16–17, S. 17.
[8] Hermann, Hans: Gerhard Schumanns Nachkriegsdichtung. In: Luginsländer Blätter 55, 1 (1957), S. 4.
[9] Günzler, Dieter: Offener Brief. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 26–27, S. 27.
[10] Vgl. Bachteler, Walter: Quo vadis, Luginsland. In: Luginsländer Blätter 67, 1 (1969), S. 4.
[11] Vgl. Donus, Wolfgang: Überlegungen zur Reform des Studentenkreises Luginsland. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 25–26, S. 25.
[12] Vgl. Bachteler, Walter: Quo vadis, Luginsland. In: Luginsländer Blätter 67, 1 (1969), S. 4.
[13] Ebd., S. 4.
[14] Vgl. Unseld, Georg: Mitgliedschaft von Mädchen? In: Luginsländer Blätter 67, 1 (1969), S. 3.
[15] Vgl. Spiess, Heinz: Zur Kritik an einer politischen Hochschulgruppe der Tübinger Studenten. In: Luginsländer Blätter 66, 4 (1968), S. 24–25, S. 25.
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