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Der Wertewandel im Kochtopf. Werteforschung anhand der Dr. Oetker Schulkochbücher

Es ist erstaunlich, wie sich bedeutende historische Entwicklungen auch in vermeintlich nebensächlichen Quellen niederschlagen. Der Wertewandel der Bundesrepublik von der Nachkriegszeit bis in die späten 1980er Jahre, der sich in den Dr. Oetker Schulkochbüchern widerspiegelt, ist ein solcher Fall. 


Bild: Carl Gremmel.
Bild: Carl Gremmel.

Die These des Wertewandels stammt vom Politologen Ronald Inglehart. Ihm zufolge fand in den westlichen Gesellschaften des 20. Jahrhundert eine Veränderung von materialistischen zu postmaterialistischen Werten statt. Materialistische Werte meinen das Streben nach Wohlstand, Sicherheit und Akzeptanz, während postmaterialistische Werte die ideelle Selbstentfaltung bezeichnen. An Inglehart anknüpfend entfachte sich eine Debatte, in der sowohl der Zeitpunkt als auch die Art des Wandels strittig diskutiert wurden.

 

Auch das Dr. Oetker Schulkochbuch veränderte sich im Laufe der Jahre. Während 1952 die Ernährung „ein Zeichen für den Kulturzustand eines Volkes [ist]“[1], betonte die Auflage von 1987 dagegen, dass Nutrition „ganz wesentlich zu unserem Wohlbefinden [beiträgt].“[2] Wie vollzog sich diese Entwicklung und welche Rückschlüsse auf die bundesdeutsche Gesellschaft erlaubt sie?

 

Das Dr. Oetker Schulkochbuch erhielt seinen Namen vom heutigen Großkonzern Oetker, hier erschien es erstmals im Jahr 1885. Bis in die Gegenwart wird es überarbeitet und in neuen Auflagen millionenfach verkauft. Das Kochbuch ist daher eine aussagekräftige historische Quelle. Besonders aufschlussreich sind die darin enthaltenen Erläuterungen zur Ernährungslehre, die sich durch alle Auflagen ziehen.

1952 stand das Schulkochbuch ganz im Zeichen einer kollektivistischen Sicht auf die Gesellschaft. Kollektivismus ist die Ansicht, dass eine wie auch immer geartete Gruppe Priorität vor dem Individuum hat. Hinweise auf diese Anschauung finden sich zuhauf: Die Kochkunst sei ein Ausdruck der Kulturstufe eines „Volkes“[3], die Leistungsfähigkeit des Einzelnen stehe im Dienst der Volkswirtschaft[4] und die individuelle Geschmacksausbildung sei nicht etwa ein ästhetisierendes Hobby, sondern ein Zeichen der „Volkszugehörigkeit“[5]. Wiederholt wird so das Individuum den Kollektiven „Volk“ und „Volkswirtschaft“ untergeordnet. Wie sich beim Vergleich mit späteren Auflagen zeigt, ist dies der Ausgangspunkt für den Wertewandel in der Bundesrepublik.

 

In den 1960ern ist eine Veränderung in vielen Bereichen der Gesellschaft festzustellen: Die Wirtschaft internationalisierte sich zunehmend, eine Konsum- und Wohlstandsgesellschaft entstand und die 68er-Bewegung stellte die traditionellen, bürgerlichen Werte infrage.[6] Auch bei Oetker wird der beginnende Wandel 1969 ersichtlich, beispielsweise bei der Kontroverse um die „ganzheitlichen Ernährung“. 1952 lobte das Schulkochbuch diesen lokalen und vermeintlich natürlichen Ansatz noch, denn er entsprach der „volks“-kollektivistischen Sichtweise auf Ernährung. Etwa ein Jahrzehnt später griff derselbe Titel die „ganzheitliche Ernährung“ erneut auf, argumentierte diesmal aber ausdrücklich dagegen. Hier eröffneten sich so erste Reibungspunkte zwischen den Werten der 1950er und 1960er.

 

Die Spannung beschränkte sich nicht nur auf Ernährungsfragen. Das Schulkochbuch zeigt exemplarisch, wie sich die Gesellschaft von alten Werten abwendete. An die Stelle des Kollektivismus trat allmählich ein Individualismus. Der oder die Einzelne erhielt nun Priorität vor dem Kollektiv. Was 1969 bereits anklang, verstärkte sich in den folgenden zwei Jahrzehnten.

Die Auflage von 1987 macht schließlich deutlich, dass die deutsche Gesellschaft in den späten 1980ern individualistisch geprägt war. Dies zeigt sich im Schulkochbuch als Streben nach persönlichem Genuss. So heißt es 1987 zum Thema „Ernährung heute“: „Von besonderer Wichtigkeit für die Gestaltung des Speiseplans ist die Erhaltung der Freude am Essen.“[7] Nicht Gesundheit oder Leistungsfähigkeit, nicht Volkszugehörigkeit, sondern der Genuss stand nun im Zentrum der Ernährungslehre.

 

Der Vergleich der Schulkochbücher durch die Jahrzehnte kann so einen Beitrag zur umfangreichen Debatte um den Wertewandel leisten. Denn er spezifiziert sowohl die Art als auch den Zeitpunkt der Veränderung: Der Kollektivismus der Nachkriegszeit wird in den 1960ern allmählich von einem Individualismus abgelöst, der sich in den 1980ern stärker ausprägt.

 

 

Ein Beitrag von Carl Gremmel


Literatur:

Eva Barlösius: Die Küche als soziokulturelles Phänomen, in: Katalyse e.V. (Hg.), Ernährungskultur      im Wandel der Zeit, Tagungsreader 28.-29. September 1996, Mühlheim an der Ruhr / Köln 1997, S. 5-10.

Rüdiger Jungbluth: Die Oetkers. Geschäfte und Geheimnisse der bekanntesten Wirtschaftsdynastie             Deutschlands, Frankfurt am Main 2004.

Andreas Rödder: Werte und Wertewandel. Historisch-politische Perspektiven, in: Andreas Rödder         (Hg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 9-28.

Tobias Sander: Der Wertewandel der 1960er und 1970er Jahre und soziale Ungleichheit. Neue Befunde zur widersprüchlichen Interpretamenten, Comparativ 17/1 (2007), S. 101-118.

Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl C. Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die sechziger Jahre in         den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.

 

Fußnoten: 

[1] Dr. August Oetker Nährmittelfabrik GmbH. (Hg.), Dr. Oetker Schulkochbuch, Bielefeld 1952, Ausgabe G, 310.

[2] Gisela Knutzen (Hg.), Dr. Oetker Schulkochbuch. Das Original, Bielefeld 1987, 10.

[3] Dr. August Oetker Nährmittelfabrik GmbH. (Hg.), Dr. Oetker Schulkochbuch, Bielefeld 1952, Ausgabe G, S. 310.

[4] Ebd., S. 308.

[5] Ebd., S. 323.

[6] Vgl. Axel Schildt/Detlef Siegfried/Karl C. Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die sechziger Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000.

[7] Gisela Knutzen (Hg.), Dr. Oetker Schulkochbuch. Das Original, Bielefeld 1987, 15.

 

 


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