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Schwieriges Erbe: Das Stuttgarter Linden-Museum und Württemberg im Kolonialismus. Eine Werkstattausstellung

Plakat der Ausstellung. Bild: Bernd-Stefan Grewe.
Plakat der Ausstellung. Bild: Bernd-Stefan Grewe.

Noch immer schwelt der Streit um das Berliner Humboldt-Forum im neuerbauten Hohenzollernschloss: Wie sollen Völkerkundemuseen mit ihren Sammlungen verfahren, vor allem wenn ein Großteil ihrer Bestände aus der Kolonialzeit stammt? Sollen die Objekte an ihre Herkunftsgesellschaften zurückgegeben werden? Und wie können die Sammlungen präsentiert werde, ohne dass Stereotype über die vermeintliche kulturelle Unterlegenheit der Kolonisierten reproduziert und wiederbelebt werden? Das sind heikle und umstrittene Fragen, denen sich nun das Stuttgarter Linden-Museum in einer sehr mutigen und offenen Weise stellt. 

 

Das Ausstellungsplakat illustriert das historische Problem bereits: Ein mehrfarbiges Foto zeigt die Treppe und den Eingang zum Museum – inklusive des Portals mit den stereotypischen Figuren eines Afrikaners und Papua-Neuguineers. Auf den Treppenstufen sind (leicht rot eingefärbt) Frauen mit Federhüten und Uniformierte mit Pickelhaube zu erkennen, sowie (in türkis gehalten) junge Menschen aus aller Welt. Die Fotografierten stammen offensichtlich aus verschiedenen Epochen. Die Fotos der Treppe sind halbtransparent und überlagern sich ebenso wie die Zeitschichten, mit denen das Museum aktuell umgehen muss: Die meisten Objekte in den Sammlungen stammen aus kolonialer Zeit, aus deutschen und anderen europäischen Kolonien, und dieses schwierige Erbe steht gegenwärtig zur Debatte. Gleichzeitig betrachtet das Museum aber alle Kulturen als gleichwertig und will den Dialog zwischen Menschen verschiedener Kulturen fördern. Aktuell plant es seine Zukunft und einen Neubau. Die koloniale Vergangenheit der Sammlungen und des künftigen Umgangs damit ist gegenwärtig das zentrale Problem für jedes ethnologische Museum. 

 

Eurozentrische Sehgewohnheiten und Wahrnehmungen brechen

Die Ausstellung bricht von Anfang an mit unserer Wahrnehmung der Welt und irritiert diese, indem etwa im ersten Modul verschiedene halbtransparent übereinander gelegte Projektionen der Weltkarte gezeigt werden. Die Besucher*innen halten sich dazu farbige, transparente Folien vor Augen, die entweder die rote eurozentrische oder die türkis gehaltene sinozentrische Darstellung sichtbar machen. Es geht um einen Perspektivwechsel.

Vitrine mit dem Portrait von Graf v. Linden. Bild: Bernd-Stefan Grewe.
Vitrine mit dem Portrait von Graf v. Linden. Bild: Bernd-Stefan Grewe.

 

Am meisten überrascht mich der kritische Umgang mit dem Gründer und Namensgeber des Museums, Karl Graf von Linden (1838-1910). Sein Portrait findet sich in einer großen Vitrine, auf deren Glas mögliche Einordnungen seiner Person mit einem Fragezeichen versehen sind: Räuber? Kulturzerstörer? Hehler? Sammelwütiger? Bewahrer? Wissenschaftsförderer? Produzent kolonialen Wissens? Verschiedene Bewertungen seines Wirkens finden sich an den beiden Seiten der Vitrine, jeweils in türkis und rot gehalten, und laden das Publikum ein, sich selbst ein Bild zu machen. Diese ausgesprochen offensive Art und Weise, sich der eigenen Geschichte zu stellen, ist wirklich beeindruckend. Man hat nicht das Gefühl eines schamhaften Beschweigens der eigenen Vergangenheit oder ihres Relativierens, wie ich es in anderen ethnologischen Museen immer wieder konstatieren konnte. Hier hat man sich bewusst für einen anderen Weg entschieden. Weder die heikle Herkunft der Sammlungen, noch die fragwürdige Rolle der Sammler, des internationalen Handels mit Ethnografika oder die kolonialen Inszenierungen, die das Museum einst präsentierte, noch die aktive Beteiligung der Stuttgarter und Württemberger an kolonialer Herrschaft werden hier ausgespart. 

 

Das Konzept der Ausstellung hat mich begeistert: Im Unterschied zu anderen Kolonialismus-Ausstellungen richtet sich diese nicht an ein ohnehin fachkundiges Publikum, das versteckte Anspielungen zu interpretieren weiß und ohnehin nur seine vorgefasste Position bestätigt bekommen möchte. Für solche Ausstellungen (etwa im Deutschen Historischen Museum in Berlin) benötigte man entweder profunde Sachkenntnisse oder eine kundige Führung. „Schwieriges Erbe“ vermeidet aber auch den Fehler provokanter und mit dem Imperativ „decolonize!“ versehener postkolonialer Ausstellungen, die auf eine moralisch leicht zu vermittelnde, eindeutige Botschaft setzten. Sondern sie stellt Fragen, sie irritiert das Publikum mit Ambivalenzen und Vielschichtigkeiten, aber sie verschweigt dabei keine Verbrechen, setzt nicht auf Einseitigkeiten oder billige Kritik. So liefert die Ausstellung keine endgültigen Antworten, vielmehr stellt sie die richtigen Fragen und regt zum Hinterfragen unreflektierter Ansichten und Sichtweisen an. Didaktisch und pädagogisch überzeugend, aber ohne den erhobenen moralischen Zeigefinger. Gerade deshalb ist sie für Schulklassen sehr zu empfehlen.

 

Kolonialismus und Gewalt, Kolonialismus im Stuttgarter Alltag

Die kleine Buddha-Figur. Bild: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart.
Die kleine Buddha-Figur. Bild: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart.

Mitten in der Ausstellung steht in einer Vitrine auch eine kleine, relativ unscheinbare Buddha-Figur, deren Herkunft die koloniale Gewaltgeschichte auch Württembergs illustrieren soll. Sie stammt aus einem Tempel in Peking, der im Zuge der internationalen „Strafexpedition“ gegen China geplündert wurde. Viel Plündergut wurde danach auf dem internationalen Markt veräußert, diese leicht am Kopf beschädigte Figur war offenbar nicht so gut zu verkaufen. Der plündernde Offizier Carl Waldemar Werther (1867-1932) beschrieb in seinen Briefen ungerührt Enthauptungen der „Aufständischen“ und übereignete seine Sammlung schließlich dem Museum. Für die Niederschlagung dieses so genannten „Boxer“-Aufstands meldeten sich aus den Reihen des württembergischen Militärs Hunderte Freiwillige. Zum Militärdienst in den Kolonien und für den Chinafeldzug musste man sich freiwillig melden, unterstreicht Provenienzforscher und Kurator Markus Himmelsbach anlässlich der Eröffnung. Den meisten Stuttgartern sei diese unmittelbare Verstrickung in Kriegsverbrechen und Kolonialkriege nicht bekannt, meint auch Heiko Wegmann, der andere Kurator. Er hat die aktive Beteiligung der Stuttgarter und Württemberger an der Kolonialherrschaft recherchiert und dabei viele Zeugnisse zu Tage gefördert, die zeigen, wie präsent der Kolonialismus in Stuttgart war. Bis heute erinnern etwa in Stadt und Umgebung zahlreiche Denkmäler und Gedenktafeln an die gefallenen deutschen Kolonialsoldaten oder verweisen Straßennamen auf die Kolonialgeschichte. Vier von acht Modulen dieser Ausstellung machen eindringlich klar, wie aktiv etwa die kolonialen Vereine waren, die gleich vier nationale Kolonialtagungen in Stuttgart organisierten. Und auch im Alltag war das Koloniale gegenwärtig: Immer wieder wurden im Stuttgarter Tiergarten oder Stadtgarten Menschen aus den Kolonien ausgestellt und massenhaft angegafft; in den Kinderzimmern gab es Kolonialspiele und Zinnfiguren mit Kolonialsoldaten; Firmen bewarben ihre Kolonialwaren mit exotischen Bildmotiven und brachten Sammelalben mit kolonialen Bildern heraus; Kolonialwarengeschäfte gab es in jedem Viertel; in Kino, Theater und Literatur und sogar in der Fastnacht war der Kolonialismus ein Thema – doch nur sehr selten wurde er kritisiert, wie etwa beim Internationalen Sozialistenkongress 1907.

 

Das letzte Modul der Ausstellung. Bild: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart.
Das letzte Modul der Ausstellung. Bild: Dominik Drasdow, Linden-Museum Stuttgart.

Um die Stereotypen des Kolonialismus, insbesondere den abwertenden Blick auf die Kolonisierten, nicht durch die Besucher*innen zu reproduzieren, werden Darstellungen verfremdet oder es finden sich Trigger-Warnungen, dass sich unter einer Klappe eine Originalabbildung befindet. Vor allem aber konfrontiert die Ausstellung das Publikum mit seinen Denk- und Sehgewohnheiten. Immer wieder adressiert sie die Besucher*innen mit Fragen, die verunsichern und zur Reflexion anregen: Wer betrachtet hier wen und zu welchem Zweck? Wer blickt zurück? Wer sind eigentlich die „Wilden“?

 

Die gesamte Ausstellung richtet sich an ein neugieriges Publikum, das nicht nur mit Fragen provoziert, sondern immer wieder zur Interaktion herausgefordert wird: An einer Medienstation zu den Straßennamen gibt es etwa eine Online-Abstimmung, wie mit den kolonialen Straßennamen heute umgegangen werden soll. Nach der Stimmabgabe kann man den aktuellen Abstimmungsstand sehen und im letzten Modul sollen die Besucher*innen sogar explizit Stellung beziehen und ihre Wünsche, Erwartungen und Anregungen für den künftigen Umgang des Linden-Museums mit seinem kolonialen Erbe artikulieren. Welche Fragen stellen sich Ihnen? Wie sollte das Linden-Museum in Zukunft aussehen? Sollte das Museum weiterhin Linden-Museum heißen? Wohl kein anderes deutsches Museum hat sich bislang so mutig der Kritik des Publikums gestellt und sich mit einer Werkstattausstellung für Diskussionen geöffnet. Zu dieser beeindruckenden Ausstellung kann man nur gratulieren!

 

Eine Rezension von Bernd-Stefan Grewe


Anmerkung:

Die Ausstellung wird bis zum 8. Mai 2022 verlängert. Wegen der Corona-Epidemie ist der Besuch der Ausstellung aktuell nur auf Voranmeldung möglich. Hier geht es zur aktuellen Information mit Anmeldung:

 

https://www.lindenmuseum.de/


Weiterführende Literatur:

Dan Hicks: The Brutish Museums. The Benin Bronzes, Colonial Violence and Cultural Restitution, London 2020.

Glenn Penny: Im Schatten Humboldts. Eine tragische Geschichte der deutschen Ethnologie, München 2019.

Benedicte Savoy: Afrikas Kampf um sein Kunst. Geschichte einer postkolonialen Niederlage, München 2021.


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