Venedig, Oxford, Cambridge, Tübingen – die Städte haben alle etwas gemeinsam: den Stocherkahn. Wenig prägt das Tübinger Stadtbild so sehr, wie die Stocherkähne, die im Sommer befüllt mit Studierenden und Tourist*innen auf dem Neckar schippern. Jede*r Tübinger*in kennt das alljährliche Stocherkahnrennen und fast jeder ist schon mal auf einem Kahn gefahren, aber keiner weiß so wirklich seit wann der Stocherkahn und Tübingen ein eingespieltes Team sind. Wer war zuerst da, Uni oder Stocherkahn?
Während man die Gründung der Universität auf das Jahr 1477 datieren kann, stellt sich die exakte Datierung des Tübinger Stocherkahns etwas schwieriger dar. Die älteste Abbildung eines ähnlichen Gefährts ist ein Holzschnitt des südlichen Neckarufers von 1544. Dieses erste Zeugnis lässt sich in der Cosmographia, einer sechsbändigen geographischen Beschreibung der damals bekannten Welt, von Sebastian Münster, finden. In der Bildmitte: ein Bootsführer, der eine Stange im Neckar versenkt. Über den Tübinger Stocherkahn gibt es zwar bis heute keine nennenswerte Spezialliteratur, aber ein Forschungsprojekt des Deutschen Schiffsmuseums und der Deutschen Forschungsgemeinschaft stellt allgemein fest, „dass schon die Kelten in Süddeutschland Boote hatten, die in Form und Bauweise den Tübinger Stocherkähnen entsprachen.“
Die Eingangs gestellte Frage kann also der Stocherkahn für sich entscheiden. Allerdings war das Verhältnis zwischen Uni, besser den Student*innen, und den Flößern, welche mit ihren Kähnen den Neckar bevölkerten, nicht von Anfang an so idyllisch, wie es sich heute an einem heißen Sommertag darstellt. Ein Senatsprotokoll der Universität aus dem Jahr 1484 berichtet, dass einige Studenten und adlige Zöglinge der Sonntagspredigt fernblieben und sich stattdessen einen – nicht besonders gelungenen – Scherz daraus machten, vorbeifahrende Flößer mit Steinen zu bewerfen, sie mit Stöcken zu schlagen und ihnen Beleidigungen zu zurufen. Das Verhalten sollte nicht ungestraft bleiben, die Übeltäter wurden jeweils zu acht Tagen Einzelhaft im Karzer, dem Universitätsgefängnis, verurteilt. Erst im 19. Jahrhundert sollten auch die Studenten, die zuvor primär als Transportmittel, zum Fischen oder als Fähre genutzten Kähne, als Freizeitvergnügen für sich entdecken.
Während die Flößerei sich zur Jahrhundertwende als unrentabel erwies und aus dem Tübinger Stadtbild verschwand, blieb der Stocherkahn beliebtes Fortbewegungsmittel für größtenteils studentische Neckarmatrosen, besonders von Verbindungsstudenten.
Die Akademische Verbindung Lichtenstein, hatte sich 1956 einen neuen Stocherkahn zulegt und wollte diese Anschaffung gebührend feiern. Das war der Beginn einer bis heute bestehenden Tradition: dem Stocherkahnrennen. Hier geht es vor allem darum nicht zu verlieren, denn der Gewinner kommt in den Genuss eines kühlen Biers, der Verlierer bekommt Lebertran. So viele Besucher*innen wie heute sollten aber nicht immer zum Tübinger Traditionsrennen strömen. Die 68er sorgten dafür, dass der Stocherkahn in den 1970er Jahren als Symbolbild der konservativen Studentenverbindungen von den eher linken Tübinger Studierenden boykottiert wurde. Erst eine Tourismuskampagne in den späten 1980ern konnte den Stocherkahn von seinem staubigen Image befreien, und auch die übrigen Tübinger Studierenden konnten sich nicht länger dem Charme der hölzernen Kähne verwehren und bevölkern bis heute an heißen Sommertagen den Neckar.
Ein Beitrag von Carina Moser
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Unteres Bild:
Institut (Timo Mäule)
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