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Neue Stolpersteine in Tübingen


Im Jahr 2020 fanden viele Gedenkfeiern von nationaler Bedeutung aufgrund der Corona-Pandemie nur im kleinsten Kreis oder online statt. Das heißt aber nicht, dass in diesem Jahr folglich auch die lokale Erinnerungskultur stillsteht – ganz im Gegenteil. In Tübingen wurden 2020 weitere Stolpersteine in der Innenstadt verlegt, die das Gedenken an die Schicksale der jüdischen Bürgerinnen und Bürger während der NS-Zeit aufrechterhalten.


Stolpersteine für Siegmund Weil, dessen Ehefrau Paula und deren Sohn Dr. Georg Weil, Bild: Maren Brugger.
Stolpersteine für Siegmund Weil, dessen Ehefrau Paula und deren Sohn Dr. Georg Weil, Bild: Maren Brugger.

Seit dem Jahr 2016 existiert in Tübingen eine private Stolperstein-Initiative mit dem Ziel, nach der Südstadt auch in der Tübinger Innenstadt Stolpersteine zu verlegen. Im Juli 2018 wurden bereits mehrere Stolpersteine verlegt. [1] Zwei Jahre später, im Sommer dieses Jahres, kamen am 13. Juli viele Stolpersteine hinzu, unter anderem zentral in der Wilhelmstraße 22 für die Familie Weil und, etwas versteckter, in der Uhlandstraße 16 für die Familie Dessauer. [2] Die Stolpersteine in der Wilhelmstraße 22 erinnern an den Bankier Siegmund Weil, dessen Ehefrau Paula und deren gemeinsamen Sohn Dr. Georg Weil.

 

Siegmund Weil wurde 1871 als Sohn eines Bankiers in Hechingen geboren. 1899 heiratete er seine Frau Paula, geb. Lyon, und zog mit ihr in die Karlstraße nach Tübingen. 1900 wurde ihr Sohn Georg geboren. Er studierte 1918 nach seiner kurzen Zeit im Heeresdienst in Tübingen und Heidelberg für kurze Zeit Medizin und anschließend in Tübingen und Freiburg Staatswissenschaften. Georg Weil volontierte bereits zu Studienzeiten bei einer Reichskreditschaft, um sich auf seinen Beruf als Bankier vorzubereiten. Er schloss sein Studium mit einer Dissertation „Über das Wesen der Wirtschaftsstufen ab“ und erhielt so den Titel Dr. rer. pol. Seit 1926 war Georg in der Bank seines Vaters tätig. Er handelte stets bedacht, gerade in der Bankenkrise der dreißiger Jahre: Er machte die Bank überliquid, ohne dabei seine Kundschaft zu verlieren. Während der „Gleichschaltung“ 1933 handelte er ebenfalls besonnen.

 

Seine Mutter Paula war die Tochter eines angesehenen Kaufmanns aus Saarbrücken. Sie war in Tübingen besonders karitativ engagiert: Paula Weil organisierte und unterstützte die Essensausgabe an Tübinger Volksschulkinder im Ersten Weltkrieg finanziell, war beim Roten Kreuz tätig und leistete noch vieles mehr. Für ihr Engagement, das auch Weihnachtsgeschenke für die Armen beinhaltete, wurde sie 1917 mit dem Charlottenkreuz geehrt und erhielt 1920 einen Dankesbrief vom Oberbürgermeister. Ihr Mann Siegmund Weil hingegen leitete gemeinsam mit seinem Onkel die Tübinger Niederlassung des Hechinger Hauses M. J. Weil & Söhne. Nachdem er sich von seinen Geschäftspartnern getrennt hatte, erwarb Weil das frühere Landgerichtsgebäude in der Wilhelmstraße 22, wo er die Bankkommandite Siegmund Weil gründete. Weil war in Universitätskreisen hochgeschätzt, beim Landgericht als Handelsrichter tätig und Vorstandsmitglied beim Württembergischen Bankiersverband in Stuttgart. Ihm wurde aufgrund seiner Großzügigkeit im Ersten Weltkrieg im März 1918 das Verdienstkreuz für Kriegshilfe verliehen.

 

Zu seinem 60. Geburtstag im Oktober 1931 erhielt Weil einen Brief vom damaligen Oberbürgermeister, in dem er für seinen Gemeinsinn gelobt wurde. Das damals deutschnationale Blatt „Tübinger Chronik“ sprach Weil ebenfalls seine Glückwünsche aus. Darin wird unter anderem sein wohltätiges Engagement betont. Zwei Jahre später wurde Weils Bank gleichgeschaltet.

Die Familie Weil verließ Tübingen bereits im November 1933 und zog nach Zürich. Sie emigrierten 1941 nach Kew Gardens in die USA. Dort starb Siegmund Weil 1942 an Herzproblemen. Seine Frau Paula lebte von dieser Zeit an bei ihrem Sohn, der eine Amerikanerin geheiratet hatte. 1953 kehrte sie mit dessen Familie nach Basel zurück. Anschließend lebte Paula in Vaduz in Liechtenstein. Währenddessen kam sie des Öfteren zurück nach Tübingen und Freudenstadt, wo sie 1965 starb. Georg war in der Schweiz ab 1953 in einem amerikanischen Finanzunternehmen tätig, verließ die Schweiz dann 1967 zum zweiten Mal, um nach Piedmont in Kalifornien zu ziehen. Dort starb er 1972 wie sein Vater an Herzproblemen. Alle Mitglieder der Familie Weil ruhen auf dem Friedhof in Kew Gardens. [3] 

Stolpersteine von Adolf und Anne Dessauer in der Uhlandstraße 16, Bild: Maren Brugger.
Stolpersteine von Adolf und Anne Dessauer in der Uhlandstraße 16, Bild: Maren Brugger.

Die Stolpersteine in der Uhlandstraße 16 gelten Adolf Dessauer und seiner Tochter Anne.

Adolf Dessauer wurde 1852 in Wankheim geboren. Er war Optiker und Graveur und kam 1875 nach Tübingen. Von 1900 bis 1914 war er dort Synagogenvorsteher. Mit seiner Frau Lenchen, geb. Halle, 1857 geboren, hatte er fünf Kinder. Lenchen starb 1928.

 

Während der Novemberpogrome 1938 wurde Dessauer nicht verhaftet. Sein Enkel Fritz Erlanger, Sohn seiner Tochter Anne, wurde allerdings festgenommen und nach Dachau gebracht. Alle Tübinger Juden wurden aber noch 1938 wieder entlassen unter der Bedingung, Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. [3] Dessauer lebte bis zu seinem Tod als letztes Familienmitglied in seinem Haus in der Uhlandstraße, allerdings nur zur Miete, da jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nach den Novemberpogromen der Grundbesitz verweigert wurde. [4]

 

Im Tübinger Grundbuch gibt es einen Eintrag zur Eigentumsänderung betreffend Adolf Dessauers Haus in der Uhlandstraße 16: Am 22. Juni 1939 erwarb Anton Brick das Haus. Dessauer starb am 30. November 1939. Von den fünf gemeinsamen Kindern Ernst, Anne, Julie, Erich und Lucie, zwischen 1882 und 1894 geboren, konnte Lucie nach Palästina auswandern, Ernst kam im Ghetto Litzmannstadt um, Julie und Erich wurden in Auschwitz ermordet.  

 

Anne Erlanger wurde 1883 in Tübingen geboren. 1906 verlobte sie sich mit dem Kaufmann Hugo Erlanger und zog mit ihm nach Niederbayern. 1913 kam der gemeinsame Sohn Fritz zur Welt. 1925 trennten sich die Eheleute, Anne zog zurück zu ihren Eltern nach Tübingen. Im Oktober 1941 zog sie nach Haigerloch, kein Jahr später weiter nach Fürth bei Nürnberg. Von dort aus wurde sie 1942 nach Theresienstadt deportiert und umgebracht. [5]

 

In Tübingen steht die Zeit nicht still, die Erinnerung lebt auch in der Pandemie weiter. Dies zeigt sich nicht nur durch das Setzen der Stolpersteine im Sommer, sondern auch durch folgendes Bild vom 14. November 2020: Zwei weiße Rosen liegen, vermutlich anlässlich des Gedenkens am 9. November, neben den Stolpersteinen von Adolf und Anne Dessauer.

 

 

Ein Beitrag von Maren Brugger


Fußnoten (externe Links, letzter Zugriff am 09.11.2020):

[1] vgl. Förderverein für jüdische Kultur in Tübingen e. V., Rubrik „Stolpersteine“ http://www.verein-juedische-kultur-tuebingen.de/?page_id=437.

[2] vgl. Programm für die Stolperstein-Verlegung der Tübinger Stolpersteininitiative https://www.kreuzkirche-tuebingen.de/media/files/stolpersteine-flyer-juli-2020-rev-lh-1.pdf.

[3] vgl. Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, 5. Aufl., Tübingen 2018.

[4] vgl. Objekt des Monats im Stadtmuseum (November 2016) https://www.tuebingen.de/15750.html#/18435.

[5] vgl. Zapf, Lilli: Die Tübinger Juden. Eine Dokumentation, 5. Aufl., Tübingen 2018.


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