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Debatte um Straßennamen - Ein Blick hinter die Kulissen der Tübinger Kommission 1/2 - Straßennamen im Kontext verschiedener Benennungskonflikte


Das Straßenschild der Albrechtstraße in Tübingen mit 'Knoten' und Hinweisschild. Bild: Maren Brugger.
Das Straßenschild der Albrechtstraße in Tübingen mit 'Knoten' und Hinweisschild. Bild: Maren Brugger.

2020 beauftrage der Gemeinderat die Stadtverwaltung Tübingen verschiedene Straßennamen zu überprüfen: Inwiefern sind die entsprechenden Personen würdig, um mit Straßennamen geehrt zu werden? Dazu wurde eine wissenschaftliche Untersuchung veranlasst, deren Ergebnisse anschließend von einer Expertenkommission geprüft wurden. Dieser Kommission, welche Beurteilungskriterien vorschlagen und Empfehlungen für den Gemeinderat bzw. die Ortschaftsräte abgeben sollte, gehörten u. a. Prof. Dr. Johannes Großmann[1] (Leiter der Kommission) (JG), Prof. Dr. Bernd-Stefan Grewe[2] (BG), Dr. Regina Keyler[3] (RK) und Prof. Dr. Boris Nieswand[4] (BN) an.

In einem Interview sprechen diese vier Mitglieder der insgesamt siebenköpfigen Kommission (weitere Mitglieder waren Prof. Dr. Silke Mende, Prof. Dr. Roland Müller und Stadtarchivar Udo Rauch) über die Arbeit der Straßennamenkommission und reflektieren im Rückblick die Kommissionsarbeit und den Umgang mit den Ergebnissen.

 

Sie waren Mitglieder der Straßennamenkommission und haben sich als Wissenschaftler*innen mit dem Thema auseinandergesetzt. Warum lohnt sich diese Auseinandersetzung mit Straßennamen?

 

BG: Straßennamen sind im Stadtbild täglich präsent. Sie werden alltäglich benutzt und von den allermeisten Menschen auch als eine Form der Ehrung gelesen. Das heißt, wir haben es mit einer Form der Ehrung im öffentlichen Raum zu tun, die anders als Denkmäler nicht durch ein Gegendenkmal konterkariert werden kann.

 

RK: Straßenumbenennungen gibt es nicht nur aus verwaltungstechnischen Gründen, wenn es Doppelungen bei Eingemeindungen gibt. Straßennamen zu wechseln, hängt immer mit den herrschenden Verhältnissen zusammen. Wir haben im ‚Dritten Reich‘ Umbenennungen von Straßen in Hitlerstraßen und nach 1945 wieder Rückbenennungen von genau diesen und anderen Straßen. Es ist also nichts Neues, dass Straßennamen geändert werden. Was vielleicht neu ist, ist diese Debattenkultur, die es seit einigen Jahren gibt.

 

Legitimation von Straßennamen

BN: Ich würde die Frage anders stellen: Warum sind Straßennamen zu bestimmten Zeitpunkten legitim und zu anderen nicht? Nach 1945 war die Adolf-Hitler-Straße nicht mehr legitim. Ich glaube, dass die Zeit, in der wir uns jetzt befinden, eine ist, in der eine Delegitimierung von etablierten Symbolen des Nationalstaats geschieht, z. B. aufgrund von Kritiken wie dem Postkolonialismus. Aber man kann durchaus die Frage stellen, inwieweit der Nationalstaat des 19. Jahrhunderts noch als Modell für das 21. Jahrhundert gelten kann. Die Debatten nehmen in gleichem Maße zu wie der Zuwachs an zivilgesellschaftlichen Organisationen.

 

JG:  Der Nationalstaat, der hinterfragt wird und in der Kritik steht, ist ein Kernproblem an der Debatte, weil die Benennung von Straßen nach Persönlichkeiten in der Regel aus nationalen Kontexten mit dieser Nationalstaatsbildung eng verwoben ist. Der Gedanke, Straßen nach Menschen zu benennen, die wiederum für nationale Leistungen repräsentativ sind, kommt aus dem 19. Jahrhundert. Zugespitzt kann man die Frage stellen, ob dieses Medium überhaupt noch ein zeitgemäßes ist. Aber die Debatten zeigen interessanterweise, dass den Menschen nach wie vor sehr wichtig zu sein scheint, dass auch Straßennamen nach Personen vergeben werden und nicht nur nach Blümchen und Vögelchen.

 

BG: Die Erfindung der Straßennamen geht auf die Französische Revolution zurück. In dieser Zeit war dies dezidiert politisch, und jeder politische Systemwechsel bringt normalerweise Straßenumbenennungen mit sich. Da dies dynamischer ist, als es heute erscheint, und weil Dinge veränderlich sind, ist es natürlich möglich, sich zu älteren Straßennamen zu verhalten und sie aus diesem Grund auch zu kritisieren und ändern zu wollen. Die Frage ist nur, in welcher Gesellschaft dies geschieht und mit welchen Formen von Partizipation das einhergeht.

 

Sie sind auf die Frage des Mediums und andere Formen der Ehrungen eingegangen. Was unterscheidet die Debatten um Straßennamen von anderen Benennungskonflikten wie z. B. Denkmälern?

 

RK: Es gibt auch Debatten um die Benennung von Schulen, die vielleicht vergleichbar sind. Dazu kommt jedoch noch, dass Schulen einen expliziten Bildungsauftrag haben. Denkmäler sind durch den materiellen Wert auf der einen Seite präsenter im Stadtbild, andererseits werden sie trotz dessen vielleicht leichter übersehen. Straßennamen sind durch die Funktion der Adresse anders. Sie sind mehr als das Schild, das an einem Pfosten hängt, sie werden laufend benutzt.

 

BG: Man kann das gut mit Briefmarken vergleichen. Briefmarken sind auch für den alltäglichen Gebrauch gedacht, aber ich kann immer auch ein anderes Motiv oder eine andere Sondermarke wählen, wenn ich mit der Botschaft nicht einverstanden bin. Das kann ich bei einer Adresse nicht.

 

JG: Ich sehe das ähnlich. Die Integration in den Alltag ist bei Straßennamen deutlich höher. Es ist Menschen vielleicht erst einmal weniger bewusst, dass das eigentlich mit Geschichte zu tun hat und es eine Geschichte hinter diesen Straßennamen gibt. Ein Denkmal nehme ich bewusst als geschichtspolitischen Akt wahr. Es soll an etwas Bestimmtes erinnern, es ist materiell. Es ist aber tatsächlich so wie RK sagte: Ich kann das Denkmal leichter verdrängen, ausblenden oder nicht in den Alltag einbeziehen. Wenn ich in einer Straße mit einem solchen Namen wohne, dann wohne ich in der Albrechtstraße und muss damit leben. Und ich muss gegebenenfalls auch damit leben, falls sich der Name ändert.

Die Albrechtstraße in Tübingen mit einem Kommentarschild. Foto per Klick vergrößerbar. Bild: Maren Brugger.
Die Albrechtstraße in Tübingen mit einem Kommentarschild. Foto per Klick vergrößerbar. Bild: Maren Brugger.
Auch ein 'Knoten' und ein Hinweis auf die Straßennamendebatte mit QR-Code hängen an dem Schild der Albrechtstraße. Bild: Maren Brugger.
Auch ein 'Knoten' und ein Hinweis auf die Straßennamendebatte mit QR-Code hängen an dem Schild der Albrechtstraße. Bild: Maren Brugger.

RK: Das Angebot von Herrn Rauch (Stadtarchivar Udo Rauch gab ein ‚Sondervotum‘ ab und plädierte dafür, gar keine Straßen umzubenennen und stattdessen ganz auf Kommentierung zu setzen, Anm. d. Red.) fand ich total einleuchtend, und ich bin ihm auch sehr dankbar dafür, dass er das so formuliert hat und hoffe, dass das auch alle mitgelesen haben. Eine Art Mittelweg war der ‚Knoten‘. Die Straßennamen bleiben da, aber der ‚Knoten‘ signalisiert, dass sie bedenkenswert bleiben. Wir hatten uns mehrheitlich dafür entschieden, dass es Straßennamen gibt, die überhaupt nicht haltbar sind und dass nur diese tatsächlich zur Umbenennung vorgeschlagen werden. Aber diesen Stein des Anstoßes im öffentlichen Raum zu lassen, das ist wirklich ein Gedanke, der z. B. bei Denkmälern öfter verfolgt wird. Diese lässt man eher stehen und kommentiert sie, die Straßennamen werden tatsächlich leichter umbenannt und werden eben nicht dazu benutzt, die Erinnerung wach zu halten. Das finde ich noch einen ganz interessanten Gedanken.

 

Die Schwierigkeit binärer Entscheidungen

BN: Aus soziologischer Sicht ist der erste Unterschied in dieser Debatte: Kann man Güter teilen oder sind es entweder/oder-Entscheidungen? Bei Geld kann man kann verhandeln, wer wie viel bekommt. Ob eine Straße umbenannt werden soll oder nicht, ist eine binäre Entscheidung, die deswegen auch leicht zu Polarisierung führt. Über die Kommission habe ich verstanden, dass es über den ‚Tübinger Knoten‘ auch Möglichkeiten gibt, aus dem binären Entscheidungsmodus auszutreten, um dadurch evtl. auch Konflikte zu entschärfen. Das erscheint mir tatsächlich als ein Fortschritt in dieser Debatte. 

Problematische Denkmäler wurden umgewidmet. Man hat aus dem Völkerschlachtdenkmal ein Denkmal der Völkerverständigung gemacht, u. a. mittels historischer Kontextualisierung. Das scheint bei Straßennamen weniger gut zu funktionieren, weil es sich dabei um Ehrungen handelt. Dadurch wird die Frage der Umbenennung virulenter. Interessant ist, dass die Frage – ob eine Person problematisch ist oder nicht – etwas anderes zu sein scheint als die Frage: Möchte ich, dass die Straße, in der ich wohne, umbenannt wird? Es gibt einen Strukturkonservativismus der Anwohner*innen. Viele Menschen wollen nicht, dass ‚ihre Straße‘ umbenannt wird. Vielleicht unterschätze ich die Kosten und den Stress, die mit einer Umbenennung verbunden sind, aber viele Menschen scheinen das als Zumutung zu empfinden. Der Konservatismus der Anwohner*innen und die Vehemenz, mit der einzelne Persönlichkeiten aufgrund ihrer Taten in der Vergangenheit attackiert werden können, fällt emotional weit auseinander und ist schwierig zu moderieren.

 

JG: Es kommt ein spannender Effekt hinzu, der über dieses Materielle hinausgeht. Es findet eine Identifikation mit dem Namen statt, aber nicht mit der Person. Viele Anwohner*innen wohnen in dieser Straße und glauben, der Name hätte quasi ein Eigenleben. Sie haben sich nie die Frage gestellt, was für eine Person dahintersteckt. Trotzdem kann das für sie eine identifikatorische Funktion haben. Das macht es so kompliziert. Man darf nicht unterschätzen, dass es diese Identifikation jenseits der Ehrung gibt, die wir als Geschichtswissenschaftler*innen sehen. Es gibt viele Leute, die fragen, ob das wirklich so wichtig sei und ob man es nicht einfach so stehen lassen könne. Vorher habe doch auch nie jemand nach dieser Person gefragt. Wer mit Geschichte nichts am Hut hat, kann solche Debatten schwer nachvollziehen.

 

BG: Und es geht in dieser ganzen Debatte nicht um Wahrheitsansprüche, das ist mir immer wieder deutlich geworden. Es geht nicht darum, wer die historische Person war, an welches Ereignis erinnert wird, sondern es geht darum, dass viele Menschen das als einen Eingriff in ihre Rechte, den Namen zu benutzen, empfinden, als einen externen Zwang.

 

Lesen Sie nächste Woche Teil 2 dieses Beitrags, in dem die Kommissionsmitglieder über ihre Rolle als Wissenschaflter*innen und über die Zukunft der Straßennamendebatten diskutieren!

 

Dieses Interview wurde von Maren Brugger in Tübingen am  27.11.2023 geführt und verschriftlicht.

 

Die Kurzbiografien der diskutierten Personen finden sich im Abschlussbericht der Kommission (externer Link).

Weitere Informationen rund um die Straßennamendebatte finden Sie auf der Homepage der Stadt Tübingen (externer Link).


 Fußnoten:

[1] Johannes   Großmann (JG) ist Zeithistoriker und seit März 2024 Professor an der LMU. Zuvor war Prof. Großmann am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen tätig und hat sich in Projekten wie dem digitalen Stadtrundgang zu den Franzosen in Tübingen  mit der lokalen Geschichte auseinandergesetzt. Prof. Großmann hatte den Vorsitz der Kommission inne und legte im Januar 2023 den Abschlussbericht der Kommission (externer Link) vor.

 

[2] Bernd-Stefan Grewe (BG) ist Professor für Geschichtsdidaktik und Public History an der Universität Tübingen. Dieser Blog, auf dem schon im Vorfeld Blogbeiträge über Personen, nach denen Straßen in Tübingen benannt sind (z. B. Eduard Haber  und Lilli Zapf ), erschienen waren, steht unter seiner Schirmherrschaft.

 

[3] Regina Keyler (RK) leitet das Universitätsarchiv in Tübingen. Dr. Keyler war vor ihrer Arbeit im Universitätsarchiv im Landesarchiv Baden-Württemberg tätig und publiziert regelmäßig zu archivwissenschaftlichen und landesgeschichtlichen Themen.

 

[4] Boris Nieswand (BN) ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Migration und Diversität an der Universität Tübingen. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Prof. Nieswand liegt in der Stadtforschung sowie in der Soziologie der Moral.


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Bild: Lisa Blum.
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