Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews!
In Teil 1 dieses Interviews haben die Kommissionsmitglieder die Relevanz der Debatte um Straßennamen sowie die Besonderheit dieser Debatten in Abgrenzung zu Denkmälern erläutert. Im Folgenden reflektieren Johannes Großmann (JG), Bernd Grewe (BG), Regina Keyler (RK) und Boris Nieswand (BN) über verschiedene Überraschungen im Laufe der Debatte. Wie kam es zur Umdeutung des Tübinger ‚Knotens‘? Welche der debattierten Straßennamen hatten sie vor der Arbeit überhaupt nicht als problematisch wahrgenommen? Wie könnten künftige Straßennamendebatten aussehen?
Mit welchen Reaktionen in der Debatte haben Sie gerechnet? Was wurde auch problematisiert, ohne dass Sie damit gerechnet hatten? Was hat Sie (nicht) überrascht?
JG: Wir hatten anfangs erwartet, von konservativer und rechter Seite Kritik zu bekommen, weil diese Straßennamendebatten – wie etwa in der FAZ – aus einer konservativen Perspektive oft unter dem Schlagwort ‚Cancel Culture‘ verhandelt worden sind. Wir hatten uns auf Kritik eingestellt, wenn wir Namen zur Umbenennung vorschlagen würden. In unserer Kommission gab es unterschiedliche Perspektiven bezüglich der Frage, ob und in welchen Fällen überhaupt eine Umbenennung angebracht wäre. Vielleicht haben wir auch deshalb nach Lösungen gesucht, die von diesem binären ‚Umbenennen‘ oder ‚Nicht Umbenennen‘ wegkommen. Das war für uns alle ein wichtiger Punkt. Wir haben lieber über historische Inhalte und Ambivalenzen nachgedacht. Dieses Ausleuchten von Ambivalenzen und das Aushalten auch der damit verbundenen der Diskussion war es, womit Teile der Öffentlichkeit meiner Wahrnehmung nach große Probleme hatten.
Die Zetkin-Debatte
BN: Mit der Clara-Zetkin-Debatte (Gestritten wurde hierbei über die Frage, ob Zetkins Beteiligung an Todesurteilen in einem politischen Prozess in Moskau zur Vergabe eines ‚Knotens‘ berechtigt (Position der Kommissionsmehrheit), oder ob hierdurch eine Gleichsetzung mit NS-Verbrechern stattfindet (Position Die Linke und Aktionsbündnis „Kein Knoten für Zetkin“). Anm. d. Red.) hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Ich hatte den Eindruck, dass die Kommission durch ihre Auseinandersetzung mit Clara Zetkin zeigen kann – wie JG gesagt hat –, dass sie ihren Kriterienkatalog unabhängig von politischen Zuordnungen auf unterschiedlich gelagerte Fälle anwendet. Das ist aber nach hinten losgegangen, weil wir nicht recht eingeschätzt haben, was politische Mobilisierung bedeutet und wie leicht eine Kommission in der Öffentlichkeit schlecht dasteht, wenn sie auf ihre Gegenmobilisierung verzichtet. Dazu waren wir nicht willens, weil wir den ‚Knoten‘ nicht als ausschlaggebende Entscheidung für die Straßennamen betrachtet haben und auch nicht einen Kampf um Meinungshoheit führen wollten.
Das war für mich auch ein Lehrstück, wie an sich richtige Argumente – davon bin ich bis heute überzeugt – praktisch kein Gehör mehr finden. Ich stand als Soziologe in der zweiten Reihe, das haben andere viel heftiger abbekommen. Es war aber erstaunlich zu beobachten, wie wenig Handlungsrepertoires ich habe, um mit einer politischen Kampagne umzugehen.
BG: Vor allem sind wir als Wissenschaftler*innen in einer anderen Rolle. Dass der Stadtrat und die Ortsbeiräte darüber entscheiden müssen und wir nur die Empfehlungen geben, war von Beginn an klar. Das Dilemma ist, sich auf diese beratende Rolle und Expertenrolle zu beschränken, also nicht zur Partei zu werden. Ich finde, man darf sich trotzdem gegen illegitime Angriffe oder falsche Argumente wehren und die Dinge richtigstellen. Dennoch ist es nicht unsere Aufgabe als Wissenschaftler*innen, Mehrheiten im öffentlichen Diskurs zu organisieren. Das ist ein bitteres Lehrstück, als solches habe ich das auch empfunden.
Ich fand erschreckend, mit welcher krassen Art von Faktenleugnung wir es zu tun hatten. Die Beteiligung Clara Zetkins an einem Prozess in Moskau wurde systematisch aus der Debatte herausgehalten und ignoriert, sodass das völlig in den Hintergrund getreten ist. Es wurde über ganz andere Dinge diskutiert als die für uns ausschlaggebenden. Die Fakten wurden selbst von den größten Gegnern nicht bestritten. Das ist das eigentlich Interessante: Man hat es geschafft, auf andere Argumente und Aspekte zu lenken, ohne unser Argument zu widerlegen.
BN: Du hast natürlich recht, dass wir als Kommission nicht als politische Akteure auftreten können. Gleichzeitig hatte ich aber den Eindruck, dass die Mobilisierenden versucht haben, das Sachurteil als unsachlich darzustellen. Die Umbenennungen betrafen alle Personen, die mit Nationalismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus zu tun hatten. Es wurde aber praktisch der Eindruck erweckt, dass wir Antikommunisten seien. Die Kommissionsmitglieder wurden symbolisch beschädigt. Das ist eben eine andere Ebene: Wir müssen keine politischen Mehrheiten schaffen, aber wollen unsere Arbeit in der Öffentlichkeit angemessen repräsentiert sehen.
JG: Ich würde sagen, das haben wir auch gemacht. Wir haben uns gegen sachliche Verzerrungen auch bewusst nicht in zu hoher Frequenz zu Wort gemeldet, weil aus den ersten Reaktionen auf unsere Antworten sehr schnell ein Muster zu erkennen war: Die selbsterklärten Zetkin-Anwält*innen suchten nur nach neuen Aussagen, an denen sie sich abarbeiten konnten. Deshalb war das auch im Nachhinein die richtige Strategie.
Dadurch ist ein anderes schon von BN angesprochenes Problem sichtbar gemacht worden: Wir erheben natürlich den Anspruch, neutrale objektive Wissenschaft zu betreiben. Aber in dem Moment, in dem wir im Auftrag der Stadt über ein Thema diskutieren und Empfehlungen abgeben, über die später politisch entschieden werden soll, sind wir automatisch auch politischer Akteur. Wir hätten gerne eine unpolitische Rolle für uns in Anspruch genommen, was aber durch den Arbeitsauftrag nicht möglich war. Es ist ein ziemlich schwieriger Spagat, damit klarzukommen – zumindest in dem Moment, in dem ein Teil der politischen Landschaft diese neutrale objektive Rolle der Wissenschaft nicht mehr anerkennen will und die wissenschaftliche Arbeit selbst in Frage stellt, wie das in diesem Fall passiert ist. Wenn wir das mit der Klimadebatte oder Corona vergleichen, haben wir auch wissenschaftliche Stellungnahmen, die automatisch als politisch wahrgenommen werden, weil es ein heiß politisch diskutiertes Thema ist. Die wissenschaftliche Arbeit wird immer politisch sein, sobald wir Stellung beziehen.
RK: Ich habe das Gefühl, dass sich die Debattenkultur in diesen öffentlichen Konflikten in den letzten Jahren einfach sehr gewandelt hat. In einem Leserbrief im Schwäbischen Tagblatt – ich glaube es ging um WHO und die Nachverdichtung – stand sinngemäß: ‚Natürlich sind wir laut, bei so einem Thema darf man, muss man auch mal brüllen dürfen.‘ Und dann brüllt man die Vertreter der Stadt an. Das ist etwas, das sich in den letzten Jahren doch sehr verändert hat mit diesen Möglichkeiten, die den Bürger*innen immer mehr gegeben werden, um mitzudiskutieren.
Aber die Kultur ist etwas verloren gegangen: Dass man sich erlaubt zu ‚brüllen‘ und auf Argumente überhaupt nicht einzugehen, sondern nur die eigene Agenda zur Sprache zu bringen. Darauf sind wir in dieser Debatte total reingefallen. Es gibt bestimmt auch Gegenbeispiele, aber in Tübingen oder bei den Windkraftanlagen in Seebronn (Rottenburg) ‚brüllen‘ sie auch bei Veranstaltungen.
Der Fall Karl Brennenstuhl
BN: Ein weiterer interessanter Fall ist der Karl-Brennenstuhl-Fall (Pfrondorf) hinsichtlich der Machtverhältnisse im Ortschaftsrat. Das wurde eher machiavellistisch gelöst: Der Ortsbeirat hat die Verhandlung abgewartet, er hat dafür gesorgt, dass eine Mehrheit gegen die Umbenennung besteht und sich dann nicht um die Empfehlung der Kommission geschert. Es hat mich überrascht, dass es nicht mehr Gegenstimmen gegeben hat, obwohl dies meiner Ansicht nach das der Fall gewesen wäre, der eine größere Debatte verdient hätte. Grund dafür ist, dass der Ortsbeirat nicht viel Lärm produziert hat.
JG: An diesem Vergleich sieht man auch, dass diese öffentliche Diskussion eine Eigendynamik entwickeln kann, die einer objektiven Entscheidungsfindung zuwiderlaufen kann. Damit will ich nicht sagen, dass unsere Empfehlung zur Umbenennung der Brennenstuhl-Straße inhaltlich unanfechtbar war, aber die Frage ist: Wie viel Diskussionen lässt man zu? Wie viel Zeit und Raum lässt man der Debatte? Das ist vor allem dann schwierig, wenn man nicht von vorneherein darauf gefasst ist, wie diese Debatte geführt werden könnte und nicht entsprechende Mechanismen an der Hand hat, damit umzugehen. Ich hatte auch das Gefühl, dass die Stadt mit dem eingerichteten Forum und mit dieser Art der Debatte, wie sie RK gerade schon angesprochen hat, überfordert war.
Diese beiden Fälle lassen sich nicht voneinander trennen: Was bei Brennenstuhl passiert ist, halte ich für empörend. Eigentlich müsste darüber die Debatte geführt werden und Leute, die laut über ‚Faschisten‘ schimpfen, müssen eigentlich genau an dieser Stelle nachhaken und ihre Stimme erheben. Das war aber nicht möglich, weil sie sich stattdessen an Clara Zetkin und unseren Empfehlungen dazu abgearbeitet haben. Die öffentliche Debatte war schon so verzerrt, die Diskursverschiebung war schon so weit, dass es eigentlich es gar nicht mehr um Straßennamen ging.
RK: Als ich zuhause erzählt habe, über was wir uns unterhalten, hat man mir prophezeit, dass es bei Dobler (Die Kommission empfahl, dem 1945 als ,Retter von Tübingen‘ mit einem Straßennamen geehrten Theodor Dobler mit einem ,Knoten‘ zu kennzeichnen, da er Mitglied der NSDAP gewesen war und das bei seinem Entnazifizierungsverfahren verheimlicht hatte. Anm. d. Red.) einen Shitstorm geben werde. Vor 20 Jahren wäre das wahrscheinlich noch anders diskutiert worden als jetzt. Heutzutage ist Dobler aus der direkten Erinnerung verschwunden, wobei das eines der interessantesten Rechercheergebnisse war: Man muss sich den Herrn Dobler nochmal genauer anschauen. (Dies hat der Gemeinderat auch beschlossen. Anm. d. Red.) Dieser Fall hat mich sehr überrascht.
Politische Akteur*innen im Umgang mit der Debatte
BG: Ich möchte die im Stadtrat politisch Tätigen auch nicht dafür verdammen, dass sie dem Begehren ihrer jeweiligen Wählerschaft nachgeben und nicht eine Kommission verteidigen, mit deren Bericht sie sich allenfalls oberflächlich auseinandergesetzt haben dürften. Sonst hätte die Abstimmung anders ausfallen müssen. Sie haben einfach auf eine Stimmung reagiert und das ist durchaus auch problematisch.
JG: Sie haben aber nicht nur auf eine Stimmung reagiert. Was Zetkin angeht, würde ich zustimmen. Aber ob Ludwig Krapf einen ‚Knoten‘ bekommt und dass man Bismarck doch einen ‚Knoten‘ gibt, mit dem ich total einverstanden bin, der aber nicht Teil unseres Untersuchungssamples war und zu dem wir deshalb am Schluss auch keine Empfehlungen abgegeben haben – auf dieser Ebene war geschichtspolitisches Denken mit involviert. Hier haben vermutlich auch hinter den Kulissen einige Akteur*innen, was z. B. Ludwig Krapf angeht, dafür gesorgt, dass sich der Gemeinderat über die Kommissionsempfehlungen hinweggesetzt hat.
Wenn diese Leute nicht wollen, dass über eine Clara Zetkin oder einen Ludwig Krapf weiter diskutiert wird und die Biografien dieser Menschen als das wahrgenommen werden, was sie wären – nämlich ambivalent –, dann würde ich sagen: ‚selbst schuld!‘
Der ‚Nachzügler‘ Bismarck
BN: Bismarck hatten wir nicht ins Sample gepackt, weil es schwierig ist, aus Tübingen die deutsche Geschichte in ein anderes Licht zu rücken. Die Frage war: Sind wir eigentlich für Bismarck zuständig? Wir haben gesagt: Wahrscheinlich nicht. Durch einen Spiegel-Artikel entstand plötzlich eine große öffentliche Debatte, wie mit Bismarck umgegangen werden sollte. Aber da waren die Entscheidungen schon gefallen. Wenn diese Debatte vor unserer Entscheidung gewesen wäre, hätten wir über den Fall wahrscheinlich anders nachgedacht.
JG: Das kann durchaus sein. Wir haben aber auch arbeitspragmatische Entscheidungen getroffen: Wie viel können wir intensiver untersuchen? Das geschah auch bezüglich der Aussichten darauf, wo es am ehesten sein könnte, dass die Kommission am Ende eine Umbenennung empfiehlt. So haben wir manche Straßen ausgeschlossen, wenn einfach die Debatten schon anderenorts geführt worden waren. Bislang ist noch keine Bismarckstraße in Deutschland umbenannt worden.
Eine Zetkin-Straße war hingegen bereits umbenannt worden. Das war ein starkes Argument dafür, sich diesen Fall noch einmal näher anzusehen. Vermutlich wird sich in zehn bis zwanzig Jahren die Situation verändert haben. Dann werden wahrscheinlich vielerorts die Bismarckstraßen und Bismarckplätze noch stärker in der Diskussion sein. Und dann wird sich womöglich auch die eine oder andere Stadt am Ende für die Umbenennung entscheiden.
BG: Vermutlich werden eines Tages Klimaaktivist*innen dafür plädieren, die Namen von Erfindern wie Daimler und Benz – als Zerstörer des Klimas oder weil sie wesentlich dazu beigetragen haben – auch nicht mehr zu führen. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass irgendwann die Daimlerstraßen auch in Baden-Württemberg verschwinden werden.
Ein Blick in die Zukunft der Straßennamendebatten
JG: Ich glaube nicht, dass die Straßennamendebatten so schnell abflauen und aufhören werden, weil es nicht mehr so viele neue Straßen gibt. Die Namen sind aktuell alle von Leuten aus dem 19. und 20. Jahrhundert besetzt. Bei denjenigen, die ursprünglich auf das Thema hingewiesen und Umbenennungen empfohlen haben, gab es immer sofort den Vorschlag, neue Akteur*innen als Namensgeber*innen einzuführen. Ich glaube, es gibt ein starkes Bedürfnis, historische Personen aus der zeitnahen Zeitgeschichte auch mit Straßennamen zu ehren. Das kann aber nicht stattfinden, weil es nicht mehr so viele neue Straßennamen zu vergeben gibt. Deshalb wird der Druck bleiben, dass bestehende Namen geändert werden. Gerade wenn das in einer binären Gegenüberstellung passiert mit historischen Akteuren, deren Missetaten sich gut gegen die vermeintlichen Verdienste jüngerer Akteur*innen stellen lassen, deren Biografien nicht in dem Maße bekannt und ausgeleuchtet sind.
BN: Im Anschluss an den Gedanken an die Zukunft von JG möchte ich als Migrationssoziologe auch noch etwas hinzufügen. Wenn wir uns die Tübinger Straßennamen ansehen, erscheinen sie sehr biodeutsch. Wenn man eine diverse Gesellschaft repräsentieren möchte und glaubt, dass die Straßennamen was damit zu tun haben, wäre eine mögliche Frage: Wie schafft man Raum für Namen, die migrantischer klingen? Man könnte auch die Namen von Leuten, die sich für die Rechte von queeren oder behinderten Menschen oder andere minorisierte Gruppen etc. eingesetzt haben, vorschlagen. Das sind im 21. Jahrhundert Themen, für welche Ehrungen möglicherweise angebracht erschienen wären.
Interessant ist, dass die Frage der Umbenennung in Tübingen am Ende strukturkonservativ gelöst wurde, dass Straßennamen am liebsten beibehalten wurden. Mitunter bleibt man bei Umbenennungen in einer Zeitkapsel gefangen, in der die Namen schon platziert sind und man sich zumindest – das war mein Eindruck in der Grundsatzdiskussion – nicht gefragt hat: Was sind Namen für das 21. Jahrhundert? Oder wie JG angedeutet hat: Will man gar keine Namen von Personen mehr, weil das aus der Zeit gefallen ist? Aber wahrscheinlich hat JG in seiner Analyse recht, dass sich diese Frage gar nicht stellt, weil es nicht genügend neue Straßen gibt, die man benennen könnte, und die Bevölkerung wahrscheinlich nicht bereit ist, die alten Namen aufzugeben.
BG: Wenn ich das geschichtspolitisch betrachten würde, glaube ich zum einen, dass die Gesellschaft überall noch nicht ganz so weit ist, dass sie die Notwendigkeit dessen einsehen wird, dass wir andere Namen brauchen als diese ‚biodeutschen‘ Namen. Da bin ich schon sehr skeptisch, dass das geht.
Wenn man weiterdenken würde, würde es nützen, wenn man z. B. lokale Opfer des NS-Regimes, die Sinti*zze und Rom*nja waren, und etwas ‚fremde‘ Namen hatten, nehmen würde. Es gibt sicherlich auch jüdische Opfer, die durchaus ein Gedenken mit einem Straßennamen verdienen. Das wäre ein ganz anderes Symbol als zu sagen: Indem wir das bestehen lassen, bleibt das ein mahnendes Erinnern. Dieses didaktische Argument wird immer nur von den schärfsten Umbenennungsgegner*innen und dann vorgebracht, wenn sie nicht mehr in der Lage sind, zu sagen, dass die Ehrung der Person aufrechterhalten werden kann. Wenn die Argumente ausgehen, wird immer dieses Argument gezogen. Aber ohne die Debatte hätte niemand einen mahnenden Charakter erkannt. Erst durch die Debatte erhält das überhaupt den mahnenden Charakter. Sobald die Debatte vorbei ist, wird diese Mahnung auch wieder vergessen und da nützt auch ein kleines Kommentarschild nichts.
Wenn man wirklich dazu anregen wollte, müsste man den alten Straßennamen hängen lassen, ihn durchstreichen und darunter den neuen Straßennamen hängen. Dann bliebe nämlich das Mahnende erhalten, jeder hätte die didaktische Maßnahme erkannt und sie würde auf lange Zeit sichtbar bleiben.
JG: In gewisser Weise ist dies das, was wir mit dem ‚Knoten‘ vorhatten. Das ist aus meiner Sicht vielleicht das Traurigste am Ausgang dieser Diskussion, dass unser Angebot eigentlich nicht durchgedrungen ist, diesen ‚Knoten‘ als etwas einzuführen oder umzudeuten, das auf Ambivalenzen von Geschichte hinweist und zeigt, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sondern eine ganze Menge dazwischen. Man kann aus dieser Menge dazwischen auch sehr viel lernen, wenn man genauer hinguckt. Leider aber wurde in der öffentlichen Debatte auch der ‚Knoten‘ in diese schwarz-weiß-Logik einsortiert, als eine ‚Umbenennung Light‘. Das ist nicht nur von den Zetkin-Verfechter*innen gemacht worden, sondern wurde auch anderen so wahrgenommen. Ich glaube, dass darin eigentlich ein großes Potential stecken würde oder gesteckt hätte. Doch so wie es nun vom Gemeinderat beschlossen worden ist, steckt hinter dem ‚Knoten‘ der Gedanke einer ‚Umbenennung Light‘ oder eines ‚schwarzen Tüpfelchens‘ auf der weißen Weste der Person, die geehrt worden ist.
Vielen Dank für das Interview! Das ist ein wichtiger Anstoß, sich auch zukünftig mit Straßennamen und den Debatten darum auseinanderzusetzen, ohne in der binären Logik von Umbenennungen zu verharren, sondern über historische Ambivalenzen und deren dauerhafte Sichtbarkeit nachzudenken.
Dieses Interview wurde von Maren Brugger in Tübingen am 27.11.2023 geführt und verschriftlicht.
Die Kurzbiografien der diskutierten Personen finden sich im Abschlussbericht der Kommission (externer Link). Weitere Informationen rund um die Straßennamendebatte finden Sie auf der Homepage der Stadt Tübingen (externer Link).
Die Kommissionsmitglieder im Interview:
Johannes Großmann (JG) ist Zeithistoriker und seit März 2024 Professor an der LMU. Zuvor war Prof. Großmann am Seminar für Zeitgeschichte der Universität Tübingen tätig und hat sich in Projekten wie dem digitalen Stadtrundgang zu den Franzosen in Tübingen mit der lokalen Geschichte auseinandergesetzt. Prof. Großmann hatte den Vorsitz der Kommission inne und legte im Januar 2023 den Abschlussbericht der Kommission (externer Link) vor.
Bernd-Stefan Grewe (BG) ist Professor für Geschichtsdidaktik und Public History an der Universität Tübingen. Dieser Blog, auf dem schon im Vorfeld Blogbeiträge über Personen, nach denen Straßen in Tübingen benannt sind (z. B. Eduard Haber und Lilli Zapf), erschienen waren, steht unter seiner Schirmherrschaft.
Regina Keyler (RK) leitet das Universitätsarchiv in Tübingen. Dr. Keyler war vor ihrer Arbeit im Universitätsarchiv im Landesarchiv Baden-Württemberg tätig und publiziert regelmäßig zu archivwissenschaftlichen und landesgeschichtlichen Themen.
Boris Nieswand (BN) ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Migration und Diversität an der Universität Tübingen. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt von Prof. Nieswand liegt in der Stadtforschung sowie in der Soziologie der Moral.
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Ein kolonialer Straßenname und eine kommunalpolitische Debatte
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