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Interview mit Dr. Martin Ulmer

Bild: Dr. Martin Ulmer.
Bild: Dr. Martin Ulmer.

Dr. Martin Ulmer ist Geschäftsführer des Gedenkstättenverbunds Gäu-Neckar-Albund und Dozent am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaften.

 

Sie haben sich während Ihrer gesamten akademischen Laufbahn dem Nationalsozialismus gewidmet und waren in verschiedenen Tätigkeitsfeldern aktiv. Was macht Ihr persönliches Interesse an diesem Thema aus?

Ich bin Jahrgang 1960 und komme aus der Post-68er-Generation. Für mich war der Geschichtsunterricht in der Schule Ende der 70er ein Schlüsselerlebnis. Mein damaliger Lehrer hat im Leistungskurs Geschichte einen Schwerpunkt auf die Geschichte der Moderne, also auch den Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert gelegt. Seine kritische Sicht und seine verschiedenen Interpretationsansätze anstelle einer affirmativen Haltung haben mich beeindruckt. Ich bin dann zum Schluss in der Schule, dem Otto-Hahn-Gymnasium in Ostfildern, während der Projekttage als Schulreporter aufgetreten. Es kam ein Zeitzeuge aus dem politischen Widerstand in Stuttgart an unsere Schule, über den ich eine Reportage geschrieben habe. Für mich war dann auch klar, dass ich in Tübingen Empirische Kulturwissenschaften und Neuere Geschichte studieren möchte, besonders weil einzelne Professoren wie Utz Jeggle damals einen Schwerpunkt auf die Themen Jüdische Geschichte und Nationalsozialismus angeboten haben. 1984 habe ich dann als Student im 5. Semester zusammen mit anderen die Geschichtswerkstatt in Tübingen gegründet, deren Vorsitzender ich heute noch bin.

 „Grabe, wo du stehst“ - Sven Lindqvist

 

Bild: Dr. Martin Ulmer.
Bild: Dr. Martin Ulmer.

In den frühen 1980er Jahren ist zugleich die neue Geschichtsbewegung entstanden, die damals ganz explizit auch der verkrusteten, obrigkeitsstaatlichen Geschichtswissenschaft, die eine auf staatliche Ereignisse und Personen fixierte Geschichte kapriziert hat, einen kultur-, sozial- und alltagsgeschichtlichen Ansatz entgegensetzen wollte. Mit dem damaligen Ansatz „Grabe, wo du stehst“ des schwedischen Historikers Sven Lindqvist, also dass man die Geschichte dort, wo man lebt und arbeitet, vor Ort ergründen muss, kommt man im Deutschland des 20. Jahrhunderts dann natürlich nicht am Nationalsozialismus vorbei. Die Geschichtswerkstätten haben sich als Teil dieser neuen Geschichtsbewegung verstanden, die in das große Ganze der 80er Jahre eingebettet war – also die Ökologiebewegung mit Protesten gegen die atomare Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, Volkszählungsboykottbewegung und Friedensbewegung.

 

Sie haben dann 2008 promoviert, nachdem Sie doch schon lange wissenschaftlich tätig waren. Wie kam es dazu, dass Sie diesen Schritt gegangen sind?

Ich war nach dem Studium im Haus der Geschichte in Stuttgart und habe mich dort mit dem Ersten Weltkrieg befasst, indem ich Feldpostbriefe verzeichnet habe. Ich habe damals außerdem in der Geschichtswerkstatt im Rahmen einer Stelle der Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, für die es in den 90er Jahren viele Zuschüsse gab, in einem zweijährigen Projekt das Werk „Zerstörte Hoffnungen. Wege der Tübinger Juden“ geleitet und mitverfasst.

 

„Promovier‘ doch noch!“

 

Von verschiedenen Seiten haben dann immer wieder Leute zu mir gesagt: ‚Du bist doch so engagiert, schreibst gute Artikel und hast interessante Ergebnisse – promovier doch noch!‘. 1997 hatte ich mich dann mit 37 Jahren entschieden, mit einer Kollegin das Forschungsprojekt „Jüdische Modernität und Antisemitismus in Württemberg“ an der Uni Tübingen in der Empirischen Kulturwissenschaft zu machen. In diesem Zusammenhang habe ich dann gesagt: Wenn dieses Projekt unter Förderung der Fritz-Thyssen-Stiftung ergiebig ist, werde ich auch meine Promotion beenden. So war es dann auch, weil ich in diesem Rahmen vor allem zu Stuttgart viele Quellen gesammelt habe. Mich hat auch motiviert, dass Professor Utz Jeggle, dessen langjähriger Schüler ich gewesen war, mir zur Promotion geraten hat.

Bild: Dr. Martin Ulmer.
Bild: Dr. Martin Ulmer.

 

„Die Promotion hat mir wissenschaftlich nochmal richtig gutgetan“

 

Die Promotion hat mir wissenschaftlich nochmal richtig gutgetan, weil ich sehr gerne forsche und mit dem Werk über Antisemitismus im Stuttgart des Kaiserreichs und der Weimarer Republik eine wichtige explorative Regionalstudie vorgelegt habe, die auch entsprechend gute Resonanz in den Rezensionen gefunden hat. Ich habe also auch überregionale Beachtung gefunden. Ich glaube, ich habe für den Stuttgarter Raum bis dahin alle Fragen beantwortet und habe mir eben auch die Mühe gemacht, nicht zu sagen: „Dieser Quellenbestand interessiert mich jetzt nicht mehr“, sondern „Das möchte ich mir auch noch anschauen.“

 

Genau dies fällt ja in ihrem Lebenslauf auch auf – für Sie haben sich nach Ihrer Doktorarbeit noch einmal ganz neue Felder erschlossen, etwa die Arbeit im Yad-Vashem-Archiv.

Das habe ich vorher schon begonnen, aber diese Arbeit wurde dann intensiviert. Neu war jedoch die Geschäftsführung im Gedenkstättenverbund und im wissenschaftlichen Feld die Einladung zur Mitwirkung am Handbuch des Antisemitismus für das Zentrum für Antisemitismusforschung, für das ich Beiträge schreibe. Ich kenne mich in der Regionalgeschichte Baden-Württembergs im 20. Jahrhundert und in der Antisemitismus-Forschung relativ gut aus. Die Kooperation zwischen Gedenkstätten, Landesarchiven und der Landeszentrale für politische Bildung ist auch für die Public History interessant. 

 

Momentan arbeite ich an einem Forschungsprojekt, das gerade abgeschlossen wird, über die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in Württemberg und Hohenzollern. Dieses Projekt habe ich im Gedenkstättenverbund koordiniert und geleitet. Das ist eine Kooperation – und insofern ist es auch für die Public History interessant – zwischen Gedenkstättenverbund, Lokalforschern aus einzelnen Gedenkstätten und Landesarchiven wie dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart und dem Staatsarchiv Ludwigsburg sowie der Landeszentrale für politische Bildung.

 

Das zeichnet moderne Forschung aus: Zivilgesellschaftliche Aktivität im Gedenkstättenbereich, mitarbeitende Wissenschaftler*innen, schriftliche Quellen und Expertisen der Landesarchive und die Vermittlungs- und Bildungsarbeit der Landeszentrale für politische Bildung. Dazu ist eine fast 600-seitige Publikation der Landeszentrale für politische Bildung im September geplant (Inzwischen erschienen, siehe https://www.lpb-bw.de/publikation3445; Anm. d. Red., externer Link), die Eröffnung einer Wanderausstellung vom Staatsarchiv Ludwigsburg im Oktober (Auch hier stehen die Türen bereits offen: https://www.landesarchiv-bw.de/web/65103; Anm. d. Red., externer Link) und ein eintägiges Kolloquium im November. Außerdem soll es noch pädagogische Broschüren für Schüler mit Arbeitsmaterialien aus der Ausstellung zur Verwendung im Unterricht geben, also zum Beispiel Quellen und Fragen hierzu.

 

Wie gestaltet sich in der Gedenkstättenarbeit die Arbeitsteilung zwischen Hauptberuflichen wie Ihnen und auch jüngeren, ehrenamtlich tätigen Leuten?

Die Hauptamtlichen halten natürlich wie die engagierten Ehrenamtlichen die Gedenkstättenarbeit zusammen und koordinieren sie, hierzu zählt auch viel Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit. Bei Ehrenamtlichen kann man natürlich nicht erwarten, dass sie rund um die Uhr arbeiten. Hauptamtliche müssen auch die Vernetzung voranbringen. Ich habe innerhalb des Gedenkstättenverbunds die Teilaufgabe, Forschung zu betreiben, Fachtagungen zu organisieren – hier gab es im Gedenkstättenverbund in der Vergangenheit vier öffentliche Tagungen zu Themen, etwa zum jüdischen Viehhandel und zum jüdischen Textilhandel in der Region, 2013 zur Rolle der Bildung der Juden und 2017 zur Wirkungs- und Umgangsgeschichte mit den KZ-Gedenkstätten vor Ort.

 

Wie sieht aus Ihrer Erfahrung das Publikum bei solchen Vorträgen aus? Ist es gemischt oder ist es doch eher die ältere Generation, die natürlich an dem Thema noch näher dran ist?

Tendenziell haben die Älteren ein Übergewicht bei bestimmten Veranstaltungen. In Tübingen haben wir allerdings die Jugendguides – kürzlich war Universität im Nationalsozialismus Thema – und bei deren Führungen sind fast nur Studierende. Ich bin als Vorsitzender mitgegangen, weil es mich interessiert hat, und da war ich vermutlich der Älteste.

 

„Die überwiegende Zahl der Gedenkstätten hat ein Überalterungsproblem“

 

Die überwiegende Zahl der Gedenkstätten hat allerdings ein Überalterungsproblem, weil diese Initiativen von der Generation in den 1980er und 90er Jahren gegründet wurden, die heute noch die Macher sind. Heute sind sie Mitte 60 oder über 70 Jahre alt. Deshalb ist eine meiner Aufgaben im Gedenkstättenverbund, auch an der Verjüngung zu arbeiten.

 

Neu ist die Jugendguideausbildung, die in der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen entstanden ist und dann vom Kreisarchiv in Tübingen aufgegriffen wurde und als Ausbildung institutionalisiert wurde. Auf der Landesebene gibt es eine erweiterte Ausbildung mit einem Aufbaumodul für KZ-Gedenkstätten für die Jugendguides und ein Aufbaumodul zum jüdischen Leben in den Synagogengedenkstätten. Dies sind die zwei wichtigsten Bereiche der Gedenkstätten.

 

Die Schaffung von 450-Euro-Euro Stellen auf der Landesebene war auch eine starke Initiative des Gedenkstättenverbundes. Davon profitieren wir jetzt auch. Von 17 Gedenkstätten, die das eingeführt haben, kommen acht aus dem Verbund. Für uns war das ganz wichtig – und dieser professionelle Kern stärkt jetzt auch die ehrenamtliche Arbeit in arbeitsteiliger Weise. Die 450-Euro-Stellen werden finanziert durch die Landeszentrale für politische Bildung, konkret mit Mitteln aus dem Landeshaushalt. Dazu gibt es meistens noch zusätzlich Geld, damit man Führungen und Veranstaltungen durchführen kann. Das ist das eine, und dann bezieht die Geschichtswerkstatt Tübingen – das ist aber nicht bei allen Gedenkstätten der Fall – meistens noch Mittel aus der Kommune. Die Geschichtswerkstatt bekommt über 3 000 Euro von der Stadt Tübingen als Vereinszuschuss. Somit können wir mit der gesamten finanziellen Unterstützung, ohne dass wir große Rücklagen bilden können, unsere laufende Arbeit sichern.

 

Ein Beitrag von Tim Penninger

Quellen zu diesem Text


An dieser Stelle nochmal einen recht herzlichen Dank an Herrn Ulmer, der sich für das Interview Zeit genommen und ausführlich auf alle Fragen geantwortet hat!


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