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Krieg! ...in der Leserbriefspalte? Veteranenkult in Tübingen nach 1945


Das Plakat aus dem Lehrforschungsprojekt. Zum Vergrößern anklicken.
Das Plakat aus dem Lehrforschungsprojekt. Zum Vergrößern anklicken.

Dreizehnmal trafen sich die Kriegsveteranen der 78. Sturm- und Infanteriedivision zwischen 1952 und 1989 in Tübingen, meist in einem Drei-Jahres-Rhythmus. In dieser Zeit erfuhren die Treffen sowohl viel Zuspruch als auch Kritik. Das erste Treffen in Tübingen und die zeitgleiche Gründung des Kameradschaftshilfswerks fielen in das Jahr 1952. Tübingen wurde als Ort ausgewählt, weil die Division 1939 vor allem in Tübingen und generell im Südwesten aufgestellt worden war.[1]

 

Von den ersten Treffen bis in die Nachrichtenspalte des ‚Alten Kameraden’

Beim ersten Treffen kamen bis zu 6.000 ehemalige Soldaten und Angehörige aus dem ganzen Bundesgebiet. Damit die Veteranen ungestört feiern konnten und  um denkbare Zusammenstöße mit den französischen Besatzungssoldaten zu vermeiden, wurde die Tübinger Innenstadt abgesperrt und die in Alarmbereitschaft stehenden französischen Soldaten blieben in den Kasernen.[2] Die ersten beiden Treffen fanden kaum Resonanz. Dies änderte sich ab dem Jahr 1956, als beim dritten Treffen mehrere überregionale Zeitungen anwesend waren. Daneben trafen Grußworte von bekannten Personen wie dem damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs, Kurt Georg Kiesinger, ein. Neben den Zusagen gab es aber auch Absagen, etwa des Reutlinger Oberbürgermeistes, der bereits zu einer anderen Veranstaltung eingeladen sei.[3] Bis 1988 sprachen die Tübinger Oberbürgermeister ein Grußwort an die Veteranen, das letzte Grußwort von OB Dr. Eugen Schmid.  Altersbedingt kamen im Verlauf der Jahre immer weniger Veteranen,  1989 waren es nur noch 500.

Ähnlich entwickelte sich das Kameradschaftshilfswerk. Dieses wurde 1952 mit der Absicht gegründet, die Hinterbliebenen zu unterstützen und dem Roten Kreuz bei der Aufklärung von Einzelschicksalen zu helfen,, aber auch militärische Traditionen zu pflegen. Anfangs zählte es noch bis zu 10.000 Mitglieder,  schrumpfte schließlich auf ca. 1.200  (1996).

Die Presseberichterstattung veränderte sich ebenfalls, der letzte große, eher positiv geschriebene Artikel erschien 1968.  Ab diesem Zeitpunkt gab es keine größeren Artikel mehr und die Berichte wurde kritischer. Deshalb schrieben die Mitglieder nun vermehrt in der Nachrichtenspalte des ‚Alten Kameraden‘, eines rechtsgerichteten Nachrichtenblatts. Hier kamen regelmäßige Wortmeldungen aus Tübingen, die in einer eigenen Spalte abgedruckt wurden.[4]

Abb. 1: Viertes Treffen der Veteranen vor dem Rathaus am 12. Oktober 1959. Foto: Alfred Göhner / (C) Stadtarchiv Tübingen.*
Abb. 1: Viertes Treffen der Veteranen vor dem Rathaus am 12. Oktober 1959. Foto: Alfred Göhner / (C) Stadtarchiv Tübingen.*

Die Rolle Hans Gmelins

Eine wichtige Rolle unter den  Veteranen übernahm der zwischen 1954 und 1975 amtierende Oberbürgermeister Hans Gmelin, der selbst Teil der Division gewesen war. Ab 1941 war er als Adjutant in Bratislava tätig und kein aktiver Teil der Division gewesen.[5] Seit 1964 war er Vorsitzender und ab 1983 Ehrenvorsitzender des Kameradschaftswerks. Vor seinem Amtsantritt gab es Uneinigkeit bezüglich der Kostenübernahme, nach seinem Antritt übernahm die Stadt einen Teil der Kosten. In Gmelins Reden wird deutlich, wie sehr er mit der Wahrnehmung der deutschen Soldaten nach dem Krieg haderte.

Denn das Veteranentreffen sah sich zunehmender Kritik ausgesetzt, die erste negative Reaktion an den Treffen gab es 1959 durch einen Verein der Kriegsdienstverweigerer.[6] Zu größeren Auseinandersetzungen kam es erst beim Treffen 1968, das von Studierenden massiv gestört wurde. Obwohl Gmelin die Veteranen dazu aufrief, sich nicht provozieren zu lassen, kam es zu Handgreiflichkeiten.[7] In einer Rede von 1979 stritt er ab, ein Militarist zu sein und verteidigte die Notwendigkeit, diese Treffen abzuhalten, als richtig.[8]

 

Abb. 2: Gedenkstein für die 78. Infantrie-Sturm-Division im Alten Lager des ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen. Unterillertaler, via Wikimedia Commons.**
Abb. 2: Gedenkstein für die 78. Infantrie-Sturm-Division im Alten Lager des ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen. Unterillertaler, via Wikimedia Commons.**

Debatte um den Gedenkstein

1959 wurde auf der Neckarinsel ein Gefallenengedenkstein in Form eines Findlings mit Gedenkplatte angelegt, der in den Folgejahren einen wichtigen Platz bei den Veteranentreffen einnahm.[9] Lange Zeit blieb dieser unbehelligt und bis 1998 wurden dort vom damaligen Tübinger Kulturamtsleiter Setzler, in Begleitung des Kameradschaftshilfswerk und der Angehörigen der Bundeswehr noch Kränze am Samstag vor dem Volkstrauertrag niedergelegt.[10] Als die Treffen nicht mehr in Tübingen stattfanden[11], wurde darüber nachgedacht, das Denkmal umzugestalten. 1995 und 1996, im Zuge der ersten kritischen Wehrmachtsausstellung, gab es aus dem linken Spektrum  Umgestaltungsvorschläge, um an die negativen Seiten der Wehrmacht zu erinnern. Es sollte nicht nur an die Soldaten, sondern auch an weitere Opfer des Zweiten Weltkriegs erinnert werden. Diese wurden nicht umgesetzt, da sich die Stadtverwaltung dagegen entschied. Aus dem linken Spektrum gab es Angriffe auf den Gedenkstein. Aufmerksam erregte auch die  DENK-Mal! Aktion, bei dem eine linke Gruppierung den Gedenkstein verhüllte. Im gleichen Zeitraum fand im Schwäbischen Tagblatt ein regelrechter Krieg in der Leserbriefspalte statt. Rund 120 Leserbriefe zum Thema der NS-Vergangenheit und des Gedenksteins wurden abgedruckt. Kritische Äußerungen trafen auf die Meinungen vom rechten Rand. Beide Seiten standen sich unversöhnlich gegenüber und polarisierten mit ihren Meinungen. Kritiker wurden vom Rechten Rand als Kommunisten und der Rechte Rand von den Kritikern als Ewiggestrige abgestempelt.[12] Lediglich eine selbstkritische Meinung eines Soldaten findet sich, der sich wie folgt äußert: „Wir müssen unseren Nachkommen die Wahrheit sagen, auch wenn es wehtut“.[13]

Aus Furcht vor weiteren Aktionen und Angriffen wurde der Stein 1999 von dem Kameradschaftshilfswerk nach Münsingen gebracht, wo er bis heute steht (Abb. 2). In den 1990er Jahren wurden die Treffen am Bundeswehrstandort in der Graf Zeppelin Kaserne in Calw abgehalten.[14] Die Stadtverwaltung trennte die Verbindung zum Kameradschaftshilfswerk und musste sich vielen Fragen der Öffentlichkeit stellen.[15]

 

Ein Beitrag von Marcel Alber


Beiträge aus dem Lehrforschungsprojekt:

1.  NS-Diskurse und „1968“ in Tübinger Studentenverbindungen – Wege zu neuem Selbstverständnis. Teil 1: Luginsland. Wo sich NS- und Reformdiskurs treffen (Vera Brillowski)

2.  NS-Diskurse und „1968“ in Tübinger Studentenverbindungen – Wege zu neuem Selbstverständnis. Teil 2: Normannia. Zeitfenster der Liberalisierung? (Vera Brillowski)

3.   Professoren im Zwielicht: Studentische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit (Patrick Schmitt)

4.  Französische Besatzung in Tübingen (1/2) – Französische Kulturpolitik als Werkzeug der Entnazifizierung (Josephine  Burtey)

5.    Französische Besatzung in Tübingen (2/2) – René Cheval: diplomate culturel? (Josephine Burtey)

6.    Gustav Rieks Wiedererlangung der venia legendi (Lennart Schmarsli)

7.    Was die Dichter aber stiften, entscheidet der Staat! Schlussstrichdenken in der Hölderlingesellschaft (1/2) (Wilhelm Röper)

8.   Podcast - Was die Dichter aber stiften, entscheidet der Staat! Schlussstrichdenken in der Hölderlingesellschaft (2/2) (Wilhelm Röper)

9.    Karl Fezer: ein umstrittener Stiftsephorus (Richard Kneer)

10.  Krieg! … in der Leserbriefspalte? Veteranenkult in Tübingen nach 1945 (Marcel Alber)

 

Abbildungsverzeichnis

*Abb. 1: Viertes Treffen der Veteranen vor dem Rathaus am 12. Oktober 1959. Foto: Alfred Göhner / (C) Stadtarchiv Tübingen. **Abb. 2: Gedenkstein für die 78. Infantrie-Sturm-Division im Alten Lager des ehemaligen Truppenübungsplatz Münsingen. Unterillertaler, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons  (03.07.2024).

 

Quellen

Rauch, Udo/Palm, Carmen (Hg.): Tübinger Szenenwechsel: 1950 – 1970: Alfred Göhner und seine Pressefotos. Tübingen 2006.

Schwäbisches Tagblatt vom 26.05.1952

S.T vom 09.09.1968

S.T vom 21.10.1996

S.T vom 04.10.1998

Stadtarchiv Tübingen A200-1292


Literatur

Krawinkel, Nikolas: Belastung als Chance: Hans Gmelin politische Karriere im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2020. 

Rüggeberg, Jens: Streit um ein Denkmal – Streit um das Gedenken. Die 78. Infanteriedivision und ihr Tübinger Gefallenendenkmal. In: Geschichtswerkstatt (Hg.): Erinnern gegen den Schlußstrich. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus, Freiburg 1997, S. 157–170.

Rüggeberg, Jens: Kurzbiographie Hans Gmelin. In: NS-Akteure in Tübingen. URL: https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/biografien/partei/hans-gmelin?q=hans&Gmelin. (27.06.2024).

Sannwald, Wolfgang: Schwierig erinnert in Tübingen. In: Sigrid Hirbodian und Tjark Wegener: Tübingen: Aus der Geschichte der Stadt und Universität, Ostfildern 2018, S. 285–328.

Ulmer, Martin: Verdrängte Verbrechen und gefallene Helden: Wie sich Tübingen in den 1950er und 60er Jahren an den Nationalsozialismus erinnerte. In: Hans-Otto Binder, Martin Ulmer, Daniela Rathe, Uta Röck: Vom braunen Hemd zur weißen Weste - Vom Umgang mit der Vergangenheit in Tübingen nach 1945, Tübingen 2011, S. 46–75. 

 

Fußnoten

[1] Ulmer, Martin: Verdrängte Verbrechen und gefallene Helden: Wie sich Tübingen in den 1950er und 60er Jahren an den Nationalsozialismus erinnerte. In. Hans-Otto Binder, Martin Ulmer, u.a (Hg.): Vom braunen Hemd zur weißen Weste – Vom Umgang mit der Vergangenheit in Tübingen nach 1945. Tübingen 2011. S. 54 f. 

[2] Schwäbisches Tagblatt vom 26.05.1952. Ab hier S.T.

[3] Stadtarchiv Tübingen A200-1292. Ab hier SAT.

[4] Rüggeberg, Jens: Streit um ein Denkmal – Streit um das Gedenken. Die 78. Infanteriedivision und ihr Tübinger Gefallenendenkmal. In: Geschichtswerkstatt (Hg.): Erinnern gegen den Schlußstrich. Zum Umgang mit dem Nationalsozialismus. Freiburg 1997. S.160 f.

[5] Rüggeberg, Jens: Kurzbiographie Hans Gmelin. NS-Akteure in Tübingen. URL: https://www.ns-akteure-in-tuebingen.de/biografien/partei/hans-gmelin?q=hans&Gmelin. (27.06.2024).

[6] Krawinkel, Niklas: Belastung als Chance: Hans Gmelins politische Karriere im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 2020. S. 399 f. 

[7] S.T vom 09.09.1968.

[8] SAT A200-1292.

[9] Ulmer, Verdrängte Verbrechen, S. 55.

[10] Sannwald, Wolfgang: Schwierig erinnert in Tübingen. In: Sigrid Hirbodian und Tjark Wegener: Aus der Geschichte der Stadt und Universität. Ostfildern 2018. S. 292.

[11] Im Zuge der Wehrmachtsausstellung von 1995 wurde auch zu den Verbrechen der 78. geforscht. Diese wurden 1995 in einem Zeitungsartikel thematisiert, was zu einer Kontroverse in der Stadtverwaltung / Gemeinderat führte. Da es auch vermehrt Angriffe von Linken Gruppierungen gab (vor allem auf den Gedenkstein), wurden die Treffen nun in Calw abgehalten (Rüggeberg 1997, S.159 ff.).

[12] Rüggeberg, Streit Denkmal, S. 164.

[13] S.T vom 21.10.1996

[14] Rüggeberg, Streit Denkmal, S. 161 ff.

[15] S.T vom 04.10.1998.

Infospalte


Links: Porträt von Karl Fezer. (C) Universitätsarchiv Tübingen: S 23/1, 313. Rechts: Plakat von Richard Kneer.
Links: Porträt von Karl Fezer. (C) Universitätsarchiv Tübingen: S 23/1, 313. Rechts: Plakat von Richard Kneer.
Fotographie „Tübingen. Partie mit Hölderlinturm.“ (s/w) ca. 1930. Autor unbekannt. © Gebrüder Metz, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons.
Fotographie „Tübingen. Partie mit Hölderlinturm.“ (s/w) ca. 1930. Autor unbekannt. © Gebrüder Metz, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>, via Wikimedia Commons.
(C) Fotograf Siegfried Lauterwasser. Die Nutzungsrechte: Familie Lauterwasser. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.
(C) Fotograf Siegfried Lauterwasser. Die Nutzungsrechte: Familie Lauterwasser. Mit freundlicher Genehmigung zur Verfügung gestellt.
Manfred Schmid/Hans-Hermann Bennhold, Wiedergeburt des Geistes die Universität Tübingen im Jahre 1945; eine Dokumentation, Tübingen 1. Aufl. 1985, S. 92. Format angepasst.
Manfred Schmid/Hans-Hermann Bennhold, Wiedergeburt des Geistes die Universität Tübingen im Jahre 1945; eine Dokumentation, Tübingen 1. Aufl. 1985, S. 92. Format angepasst.
Programm „Ringvorlesung: Das deutsche Geistesleben und der Nationalsozialismus“, in: UAT 197/9. Bild im Format angepasst.
Programm „Ringvorlesung: Das deutsche Geistesleben und der Nationalsozialismus“, in: UAT 197/9. Bild im Format angepasst.
Bild: (C) Vera Brillowski.
Bild: (C) Vera Brillowski.
Bild links: (C) Verlag Peter Lang. Bild rechts: Fotografie von Bastian Wade.
Bild links: (C) Verlag Peter Lang. Bild rechts: Fotografie von Bastian Wade.

 

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