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Prof. Dr. Reinhold Weber ist Honorarprofessor an der Universität Tübingen, Leiter der Abteilung „Haus auf der Alb“ der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg in Bad Urach, Mitglied im Rat für Migration und noch vieles mehr. Er hat in Tübingen studiert, 1998 den Magister Artium in Neuerer Geschichte mit Schwerpunkt Zeitgeschichte, Mittelalterlicher Geschichte und Neuerer Englischer Literatur abgeschlossen und im Jahr 2003 promoviert. Seit 2007 ist er als Dozent zurück in Tübingen. Er publiziert vor allem über südwestdeutsche Geschichte, auch mit dem Fokus Migration. Trotz der aktuellen Situation war Herr Weber freundlicherweise bereit, uns ein schriftliches Interview zu geben und so von seiner vielfältigen und spannenden Arbeit zu erzählen.
Historischer Augenblick: Wie sind Sie zu Ihrem Beruf gekommen?
Prof. Weber: Schon als Schüler und Student habe ich mich mit Publikationen der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) versorgt. Als Doktorand habe ich dann ein Praktikum bei der LpB gemacht, dem sich eine jahrelange freie Mitarbeiterschaft anschloss. Ich hatte das große Glück, in dieser Phase schon ganze Publikationen eigenständig erstellen zu dürfen. Dabei habe ich gemerkt, dass es meine Berufung ist, Ergebnisse der Forschung in der historisch-politischen Bildung breitenwirksam zu vermitteln. Mit den Publikationen der LpB erreichen wir Zehntausende Leser*innen, mit dem Online-Angebot gar ein Millionenpublikum. Dass dann 2003 direkt nach meiner Promotion eine der wenigen Stellen im Publikationsbereich frei wurde und ich sie bekommen habe, war dann – wie so oft im Leben – auch ein bisschen Glück, über das ich im Rückblick sehr dankbar bin. Natürlich gehören zu solchen Berufswegen immer Fleiß und Leistung, aber ich durfte an bestimmten Punkten immer wieder Menschen begegnen, die mich gefordert und gefördert haben.
Sie beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Tätigkeiten, sind Mitglied im Rat für Migration (RfM), Sie lehren an der Universität Tübingen, sind Leiter des „Hauses auf der Alb“ und schreiben dann noch Bücher - wie kann man sich eigentlich Ihren Berufsalltag vorstellen?
Mein Berufsalltag ist sehr abwechslungsreich und das macht ihn so faszinierend. Ich habe Phasen, in denen ich mich an den Schreibtisch zurückziehen und Texte schreiben darf. Diese Phasen wechseln sich ab mit der Organisation von Tagungen, Seminaren, Lesungen und Podiumsgesprächen. Das bedeutet viele Kontakte und fast zahllose Gespräche mit Menschen, Diskurs und Diskussion, viele wertvolle Begegnungen und permanentes Weiterlernen. Im Laufe der Zeit entwickelt man dann eine Expertise in bestimmten Bereichen, bei mir etwa die Themen Migration und Integration, politische Kultur, Parteien- und Wahlgeschichte, Terrorismus, Protestbewegungen usw. Mit den Jahren baut man so auch ein Netzwerk mit vielen interessanten Menschen auf, das ich als sehr wertvoll empfinde – ein wahrer Schatz! Hinzu kommt die Arbeit in zahlreichen Gremien, in denen ich die LpB vertrete – auf Landesebene und bundesweit. Als Abteilungsleiter im „Haus auf der Alb“ führe ich eine Gruppe von etwa zehn Mitarbeiter*innen, begleite sie inhaltlich und habe natürlich auch klassische Verwaltungsaufgaben: Führung, Personalentwicklung, Haushalt usw. Das ist manchmal zeitraubend, aber es ist letztlich ein wahres Vergnügen, ein gut funktionierendes Team von engagierten Mitarbeiter*innen zu haben.
Schließlich biete ich jedes Semester als Honorarprofessor noch ein Hauptseminar an. Das zwingt mich im positiven Sinne dazu, selber weiter zu forschen, auch wissenschaftlich am Puls der Zeit zu bleiben und den wertvollen Kontakt zu Studierenden nicht zu verlieren. Da gibt es viele Synergien: Ich kann den Studierenden in Seminaren nicht nur Inhalte vermitteln, sondern auch Berufsfelder und den Praxisbezug ihres Studiums aufzeigen. Studierende können bei mir Praktika machen und manchmal konnte ich auch schon beim Einstieg ins Berufsleben behilflich sein. Das ist ein sehr erfüllendes Erlebnis: Sie begleiten jemanden während des Studiums, bei der Abschlussarbeit oder bei der Promotion, sehen wie er oder sie ins Berufsleben einsteigt – und plötzlich ist „ihr“ ehemaliger Student oder „ihre“ ehemalige Studentin Kollege oder Kollegin – wunderbar!
Zusammengenommen sind das alles sehr unterschiedliche und vielfältige Aufgaben, die auch ganz unterschiedliche Anforderungen an einen selbst stellen. Und das hat alles auch mit großem Engagement zu tun. Langeweile verspüre ich nur selten, vielmehr sitzt man dann auch abends und am Wochenende am Schreibtisch. Dazu braucht man eine hohe intrinsische Motivation und vor allem die Freude an der Arbeit mit Menschen aus vielen unterschiedlichen Bereichen.
Wie hat sich die politische Bildungsarbeit in den letzten Jahren verändert?
Unsere Gesellschaft hat sich verändert und insofern hat sich auch die historisch-politische Bildung verändert. In vielen Schulklassen liegt beispielsweise der Anteil von Kindern, die aus einer Familie mit Zuwanderungsgeschichte kommen, bei 50 oder 60 Prozent. Darauf muss politische Bildung reagieren. Außerdem sind wir seit Jahren bemüht, Menschen mit inklusiven Angeboten zu erreichen, die aufgrund eines Handicaps, ihrer sozialen Stellung oder ihrer persönlichen Bildungsgeschichte ausgegrenzt sind. Politische Bildung ist also in der Pflicht, Barrieren für politische und gesellschaftliche Teilhabe abzubauen. Und nicht zuletzt kommt hinzu: Unsere Demokratie und unser Wertefundament sind im Stresstest, werden von gesellschaftlichen und politischen Gruppen offen angefeindet. Demokratieförderung, Extremismusprävention und Erinnerungsarbeit sind bei uns sehr wichtige Arbeitsschwerpunkte. Politische Bildung hat dabei den Anspruch, parteipolitisch neutral zu sein – und das ist sie auch. Aber sie darf nicht wertneutral sein! Wenn unterschiedliche Gruppen – Populisten und Extremisten von rechts, links oder auch von fundamental-religiöser Seite – die Grundlagen unseres Zusammenlebens angreifen, muss das offen angesprochen und mit allen Mitteln der Aufklärungsarbeit bekämpft werden.
Was fasziniert Sie an der Landesgeschichte?
Mich hat vor allem die Zeitgeschichte des deutschen Südwestens schon immer fasziniert: Verfassungsentwicklung, Demokratisierung, Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und Wiederaufbau der Demokratie. Der Südwesten hält hier ein besonderes Forschungsfeld bereit, zum einen durch den historisch-kritischen Vergleich der Vorgängerländer des heutigen Baden-Württemberg (Baden, Württemberg und Hohenzollern), zum andern durch den verfassungspolitischen Modernisierungsvorsprung der südwestdeutschen Länder im 19. Jahrhundert im Vergleich zur Entwicklung etwa in Preußen. Die Landesgeschichte hat traditionell einen Schwerpunkt auf die Epochen Mittelalter und Frühe Neuzeit. Mich hat aber das 20. Jahrhundert gefesselt. Und ja, ich weiß, im Moment sind „Global History“ und „Postcolonial Studies“ en vogue, aber ich selbst empfinde es als sehr schade, dass auch an den baden-württembergischen Universitäten die Landesgeschichte, zumal die des 20. Jahrhunderts, immer weniger gelehrt wird. Die Zeitgeschichte vor allem nach 1945 ist sehr stark auf die bundespolitische Perspektive verengt, obwohl Deutschland ohne seine Länder und den Föderalismus nicht zu verstehen ist. Hier, in der jüngsten Zeitgeschichte, liegen viele Forschungsfelder brach und viele Fragen und Themen sind noch völlig unbearbeitet. Dabei ist es doch von zentraler Bedeutung, das unmittelbare Lebensumfeld auch historisch zu kennen, nicht zuletzt um die Gegenwart besser verstehen und erklären zu können.
Sie sind Mitglied im Rat für Migration (RfM) und haben auch ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht: Ein Koffer voll Hoffnung. Das Einwanderungsland Baden-Württemberg, Tübingen 2019 (zusammen mit Karl-Heinz Meier-Braun). Wie kam es zu diesem Buch?
Ich beschäftige mich schon seit rund 20 Jahren mit der Zuwanderungsgeschichte im deutschen Südwesten, mit der Arbeitsmigration seit Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem mit der Zuwanderung seit 1945. Migration – und damit auch Integration – ist eines der zentralen gesellschaftspolitischen Themen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ich bin der festen Überzeugung, dass es in unserem Land nur ein friedliches und respektvolles Zusammenleben geben kann, wenn es uns gelingt, die historisch gewachsene Vielfalt der Gesellschaft positiv zu gestalten. Der Südwesten war aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke schon immer ein begehrtes Zielland für Zuwanderer. Diese Tatsache historisch aufzuarbeiten, nach Fehlentwicklungen in Politik und Gesellschaft zu fragen und letztlich auch die Frage zu stellen, was wir aus Fehlern in der Vergangenheit lernen können, hat mich bewegt und letztlich auch zu dem Buch „Ein Koffer voll Hoffnung“ geführt. Jahrzehntelang haben sich die Deutschen vorgemacht, kein Einwanderungsland zu sein, dabei ist Migration der Normalfall in der Geschichte – und viel zu oft rücken wir die Defizite von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in den Mittelpunkt, anstatt die Bereicherung zu betonen, die sie in jeglicher Hinsicht für unsere Gesellschaft sind.
Eines Ihrer Online-Projekte ist das Internetportal der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg zur Landeskunde Baden-Württembergs. Wie entwickeln sich Lehre und politische Bildung Ihrer Ansicht nach online weiter, gerade da in Zeiten von Corona das digitale Lernen unerlässlich wird?
Die Corona-Pandemie hat uns ja alle kalt erwischt. Natürlich gab es in den letzten Jahren schon positive Entwicklungen bei der Digitalisierung der Lehre, aber wir haben nun eben gemerkt, was Deutschland alles verschlafen hat. Vieles davon wird nun im Eiltempo aufgeholt und manches – nicht alles – wird bleiben. Als Beispiele: Videokonferenzen, Webcasts oder generell digitale Lernumgebungen bringen viele Vorteile, schaffen andere Kommunikationsräume und machen manche Dienstreise unnötig. Das schont Ressourcen und die Umwelt. Aber dennoch bin ich der Überzeugung, dass gerade in unserer Disziplin die persönliche Begegnung, der persönliche Austausch und die Diskussion nicht zu ersetzen sind. Trotz aller Vorteile der Digitalisierung: Ich möchte das Face-to-face-Gespräch im Seminarraum auf gar keinen Fall missen, es ist unersetzlich!
Ein Beitrag von Maren Brugger
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